Diskussion über Grundwerte Warum gibt es eigentlich keine Demo der Erdogan-Kritiker?

Meinung | Berlin/Köln · Viele Türken in Deutschland stehen jetzt erst recht zu ihrem Idol Erdogan. Wessen Herz aber eher für den türkischen Halbmond als für Schwarz-Rot-Gold schlägt, der sollte die deutsche Staatsbürgerschaft nicht einfach hinterher geworfen bekommen.

Pro-Erdogan-Demo in Köln: Bis zu 30.000 Teilnehmer
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Pro-Erdogan-Demonstration in Köln

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60 Prozent der in Deutschland lebenden drei Millionen Türken haben vor einem Jahr die AKP von Staatspräsident Erdogan gewählt. Der Putschversuch vor einigen Wochen und Erdogans brachiale Reaktion darauf waren damals zwar noch nicht bekannt. Doch es stellt sich heute heraus, dass viele Türken in Deutschland jetzt erst recht zu ihrem Idol stehen. Gemeinsam mit Erdogan in Ankara haben sich auch manche seiner Anhänger in Deutschland bereitwillig radikalisiert.

Steht Traum einer großen Nation über den Grundwerten?

Andersdenkenden begegnen Erdogan-Anhänger mit zunehmender Repression, auch in Deutschland. Dies erklärt wahrscheinlich, warum es bislang keine von Türken organisierte oder unterstützte Erdogan-kritische Demonstration in Deutschland gegeben hat.

Demokratie, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau — all das scheint vielen Türken auch in Deutschland nicht besonders viel wert zu sein. Der Traum von einer großen Nation und einem großen Herrscher dafür umso mehr. Die Aufrufe deutscher Politiker zur Mäßigung sind nur zu berechtigt.

Dabei wird dann gerne übersehen, dass Erdogan sein Land gerade gefährlich isoliert. Dass es die Wirtschaftskraft, für die er in den vergangenen zehn Jahren so viel getan hatte, gerade wieder verliert, weil sich Investoren in Scharen zurückziehen.

Wessen Herz nicht an deutschen Grundwerten hängt, wer lieber ein autokratisches Regime in der Heimat unterstützt, wer Erdogans Lügen kritiklos auf deutschen Straßen wiederholt, wer Verhaftungen und Folter in der Türkei verharmlost, der muss sich allerdings auch fragen, ob er nicht lieber dort leben möchte.

Der Vorstoß des CDU-Politikers Jens Spahn, die Regeln der doppelten Staatsbürgerschaft wieder strenger zu fassen, ist daher nachvollziehbar. Junge Türken (und andere hier geborene Ausländerkinder) müssen seit dem Jahr 2014 nicht mehr bis zum 23. Lebensjahr entscheiden, ob sie Türke oder Deutscher sein möchten. Sie können einfach automatisch zwei Pässe haben. Die Politik verband mit dieser großzügigen Geste die Hoffnung, dass Integration leichter funktionieren würde, dass Betroffene heimatverbundener in Deutschland würden. Das ist in vielen Fällen jedoch nicht so.

Die vereinfachte doppelte Staatsbürgerschaft dürfte die Schizophrenie, in der viele Deutsch-Türken zwischen zwei Nationalitäten leben, eher noch verstärkt haben. Wessen Herz also für den türkischen Halbmond und nicht für Schwarz-Rot-Gold schlägt, der sollte die deutsche Staatsbürgerschaft nicht einfach hinterher geworfen bekommen.

Richtig auch die Forderung, den türkischen Ditib-Gemeinden, die Erdogan nahestehen, die Kontrolle über den Islamunterricht an deutschen Schulen zu entziehen. Es kann nicht sein, dass das türkische Regime bestimmt, was muslimische Kinder in deutschen Schulen über den Islam lernen. Deshalb sollten die Bundesländer keine entsprechenden Staatsverträge mehr mit Ditib-Verbänden abschließen.

(mar)
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