Kolumne: Berliner Republik Die Auflösung der deutschen Konsenskultur

In der Flüchtlingskrise droht sich die Gesellschaft zu spalten, in jene, die "Willkommen" rufen, und jene, die sagen: "Das Boot ist voll." Die auseinanderstrebende öffentliche Meinung rüttelt an unseren Grundfesten.

Deutschlands weltweit bewunderter Erfolg mit stabiler Volkswirtschaft und gefestigter Demokratie liegt auch im Wesen unserer Konsensgesellschaft begründet. Anders als beispielsweise in Frankreich, wo sich Arbeitgeber und Gewerkschaften spinnefeind sind, werden in Deutschland Tarifverhandlungen weitgehend mit Augenmaß geführt. Und wenn es mal nicht so läuft, zaubern wir Konzepte wie die Kurzarbeit aus der Schublade, um Massenentlassungen zu verhindern.

Gralshüterin dieser Konsenskultur war bislang die Kanzlerin. Sie musste gar viel Kritik dafür einstecken, dass sie dem Volk nach dem Maul regierte. Ihr als Schlafwagenpolitik geschmähter Regierungsstil, der frei war von großen Visionen und sich immer auf das nächste Problem konzentrierte, bescherte uns immerhin trotz internationaler Finanzkrisen zehn Jahre lang wachsenden Wohlstand und inneren Frieden.

Uns ging es in den vergangenen Jahren gut bis zum Übermut. Zum Start der zweiten großen Koalition war eine gewisse Übersättigung des Erfolgs erreicht: brummende Konjunktur, traumhafte Exportquoten, niedrige Arbeitslosenzahlen, volle Sozialkassen. Es lief so gut, dass gar wider alle Vernunft ein Rentenpaket beschlossen wurde, das in den nächsten Jahren Milliardensummen verschlingt.

Nun droht sich diese stillschweigende Übereinkunft zwischen Volk und Politik aufzulösen, wonach es gelingt, eine große Mehrheit stets mitzunehmen. Die Herausforderungen, die sich durch Tausende von Flüchtlingen stellen, die nach wie vor täglich nach Deutschland einreisen, bringt die deutsche Parteienlandschaft ebenso in Schieflage, wie es die Bevölkerung spaltet. Immer mehr Menschen sorgen sich, dass wir Abstriche machen müssen vom Wohlstand. Wie in Österreich, Frankreich und Spanien zu betrachten, schlägt in solchen Momenten die Stunde der Populisten von links und von rechts.

Wäre die Kanzlerin weiterhin die gewiefte Taktikerin und Vollstreckerin der Umfrage-Wünsche ihres Volkes, hätte sie in den vergangenen Wochen in der Flüchtlingspolitik längst einen sachten Wechsel hin zu ein bisschen mehr Seehofer-Position vollziehen müssen. Das Gegenteil aber ist geschehen. Sie lässt ihre Umfragewerte abrutschen und die Spaltung der Gesellschaft geschehen. Unser Merkel-Bild war bis zur Flüchtlingskrise offenbar noch nicht komplett.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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