Kolumne Frauensache Ein Kuss für den Verräter

Berlin · Sein Motiv? Wohl nicht der Ruhm, den er ohnehin nicht genießen kann. Offenbar hat Edward Snowden ausgepackt, damit die Menschen eine Chance haben, sich gegen staatliche Überwachung zu wehren.

Diese Kolumne ist am 6. Juli, dem Tag des Kusses, geschrieben worden. Die schönsten Zeilen über den Kuss hat der Lyriker Charles Baudelaire verfasst: "Den Eintagsfliegen gleichen meine Küsse, die abends kosend klare Seen umziehn." Das ist romantisch, ganz im Gegensatz zur Entstehungsgeschichte des Küssens. Die hat nämlich viel mit Schimpansen und Gekautem zu tun: Der evolutionäre Ursprung des Kusses, so vermuten Forscher, liegt beim Füttern der Nachkommen.

Schimpansen haben die vorgekaute Nahrung von Mund zu Mund an ihre Nachkommen weitergegeben. Der Mensch hat ihnen das abgeguckt, und aus diesem Kussfüttern hat sich dann der Begrüßungskuss entwickelt. Heute gibt es Küsse in allen Varianten: den Zungenkuss, den Bruderkuss, den Schokokuss oder den Abschiedskuss. Einen Kuss zum Abschied hat vielleicht auch Edward Snowden seiner Freundin Lindsay Mills gegeben als er ihr sagte: "Ich bin bald zurück."

Vermutlich wird Lindsay Mills den Mann, der unsere Vorstellungen von Freund und Feind, von Demokratie und Schurkenstaat auf den Kopf gestellt hat, nie wiedersehen. Den Mann, dessen Enthüllungen gezeigt haben, wozu demokratische Regierungen bereit sind, wenn durch technischen Fortschritt eine Rundumüberwachung möglich wird. Insofern hat Angela Merkel Recht, wenn sie sagt, das Internet sei Neuland — seine Chancen, aber auch seine Abgründe sprengen die Grenzen dessen, was wir uns bisher vorstellen konnten. Das hat Snowden bewiesen.

Was aber ist nun Edward Snowden, ein Held oder Verräter? Es ist leicht letzteres in ihm zu sehen, hat er doch geltendes Recht gebrochen, und jeder aufrechte Staatsbürger weiß: der Zweck heiligt nicht die Mittel. Oder wie Bundespräsident Joachim Gauck es formuliert: "Für puren Verrat" habe er kein Verständnis. Das sagt wohlgemerkt das Staatsoberhaupt eines Landes, das gestohlene Steuer-CDs kauft. Offenbar endet der pure Verrat da, wo der Staat Kasse machen kann. Edward Snowden hat einen Rechtsbruch begangen, damit die Welt von den Rechtsbrüchen der USA — "the land of the free" — erfährt.

Sein Motiv? Wohl nicht der Ruhm, den er ohnehin nicht genießen kann, weil seine Lebensperspektive sich jetzt auf Flucht oder Gefängnis beschränkt. Auch Geld ist nicht der Grund, er hat seine Informationen kostenlos preisgegeben. Offenbar hat Edward Snowden also ausgepackt, damit die Menschen eine Chance haben, sich gegen staatliche Überwachung zu wehren. Sein Verrat ist eine Aufforderung an jeden von uns — und dafür könnte ich ihn küssen.

(RP)
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