Kolumne: Gesellschaftskunde Abschottung schützt nicht vor Veränderung

Gerade wenn Menschen ihre Gegenwart als prekär empfinden, wünschen sie sich stabile Verhältnisse. Doch Wandel findet statt - egal, wie rigide Europa sich abschottet.

Nun kommen die schlimmen Nachrichten also wieder aus der Ferne. Aus den Flüchtlingslagern in Griechenland, von den Küsten des Mittelmeers, aus der Türkei und Syrien. Bei aller Erleichterung darüber, dass die Kommunen in Deutschland und die vielen ehrenamtlichen Unterstützer nun Spielräume gewinnen, sich langfristig auf die Menschen aus anderen Kulturkreisen einzustellen und den mühsamen Prozess der Integration mit der nötigen Sorgfalt zu betreiben, bleibt ein Gefühl der Beschämung zurück. Das wurzelt wohl in der Hilflosigkeit angesichts des Elends in der Welt, das Europa in den vergangenen Monaten so nahegekommen ist. Und das nun wieder auf Abstand gehalten wird mit vielen Mitteln.

Sicherheit und Schutz sind Urbedürfnisse von Menschen - berechtigte Ansprüche, die viele zudem mit Heimat verbinden. Denn das Fremde war lange Zeit das Ferne, in das man sich freiwillig aufmachte, wenn man genug Neugierde und Abenteuergeist besaß. Nach der Rückkehr konnte man dann mit Fontane erschöpft seufzen: "Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen." Dieser alte Gegensatz von Heimat und Fremde, von Sicherheit und Wagnis, gilt schon lange nicht mehr. Menschen bewegen sich routiniert um den Globus. Zugleich ist die Gegenwart für viele auch in den vergleichsweise gesicherten Verhältnissen Europas nicht mehr gewiss. Jugendarbeitslosigkeit, Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, Konkurrenzdruck sind nur einige Phänomene, die jedem einzelnen das Gefühl geben, um seine Existenz und seinen sozialen Status kämpfen zu müssen.

Zusätzlich kommt nun mit der großen Flüchtlingsbewegung das Fremde nahe - und zwar ungefragt, und bietet eine perfekte Projektionsfläche für das Unbehagen an gesellschaftlichen Veränderungen. Die hat es immer gegeben, wird es geben, und immer fühlen sie sich für die Zeitgenossen besonders radikal an. Doch plötzlich scheint mit "den Fremden" der Katalysator dieser Entwicklung ausgemacht.

Der Dichter Hugo von Hofmannsthal hat einmal geschrieben: "Sind wir nicht am ärmsten, wo wir am gesichertsten sind, am reichsten, wo wir am gefährdetsten sind?" Damit ist natürlich nicht die Sicherheit an Leib und Leben gemeint, sondern das Wissen um die Unbeständigkeit aller Zustände, in denen wir uns vermeintlich wohlig einrichten. Es ist ein Appell an die Offenheit, an den Mut, sich dem Wandel des Lebens zu stellen. Durch Abschottung lässt er sich nicht aufhalten, das allerdings ist sicher.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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