Kolumne: Gesellschaftskunde Außenseiter sollten neugierig machen

In der Konsumgesellschaft haben Menschen gelernt, schnell und abschließend zu urteilen. Auch über ihre Mitmenschen. Das produziert Außenstehende.

Es gibt sie in jedem Unternehmen, jedem Büro, jeder Schulklasse, jedem Verein: die Unauffälligen, die am Rande, die, die oft sehr höflich, immer hilfsbereit und niemals launisch sind, aber eben ein bisschen anders als der Rest und darum in der Defensive. Von der Mehrheit werden sie als seltsam, eigenbrötlerisch, vielleicht kauzig wahrgenommen. Es umgibt sie ein wenig Einsamkeit. Dabei haben sie oft nur eine Eigenschaft weniger ausgeprägt als die meisten anderen: Anpassungsfähigkeit.

Das ist ein Vermögen, das sich aus Beobachtungsgabe, Nachahmungsbereitschaft und ein wenig Zynismus zusammensetzt. Anpassungsfähigkeit ist der Wille, sich einzuordnen - und der Mehrheit dadurch zu signalisieren, dass sie im Recht ist, dass sie richtig lebt. Anpassungsfähigkeit hilft dem Einzelnen, in der sozialen Wirklichkeit zu bestehen, mitzuschwimmen, sich keiner Kritik auszusetzen. Und es ist es bemerkenswert, dass das so wichtig geworden ist.

Wer sich heute im sozialen Feld bewegt, muss die anderen im Blick haben, muss beobachten, wie sie sich geben, wie sie sich kleiden, reden, ihre Themen wählen, was sie cool finden - und was ganz sicher nicht. Das sind soziale Codes. Sie signalisieren, wer in einer Gruppe dazugehört und wer nicht. Sie scheiden die Mehrheit von denen am Rande.

So haben Gruppen wahrscheinlich schon immer funktioniert, und Außenseiter hat es immer gegeben. Doch in einer Gesellschaft, in der alles auf dem Prinzip des Konsums basiert, in dem ständig Wahlentscheidungen zu treffen sind, Angebote, Preise, Vorteile verglichen werden müssen, wird das Urteil rigoroser. Menschen haben verinnerlicht, dass sie bewerten müssen und bewertet werden. Und dann braucht es eben nur noch Bruchteile von Sekunden, um ein Gegenüber zu scannen und festzulegen: "like" oder "dislike", Daumen hoch oder runter.

Es gibt Kulturkreise, die noch unbeeindruckter sind von diesem Denken. Da kann man erleben, wie Menschen erst einmal emotionale Witterung aufnehmen, wenn sie einander begegnen. Sie scannen nicht, sie lassen sich Zeit, eine Empfindung für den anderen zu entwickeln. Auch in solchen Gesellschaften gibt es Außenseiter, Statussymbole, Moden. Doch der Einzelne hat größere Chancen, hinter dem hervorzutreten, was der erste äußere Eindruck hinterlässt. Eine Gesellschaft, die sich diese Unvoreingenommenheit nicht mehr gönnt, wird ärmer. Denn sie verpasst die Unscheinbaren, die Eigenbrötler, die Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - auf den ersten Blick nicht dazugehören. Und oft viel spannender sind als der Rest.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort