Kolumne: Gesellschaftskunde Die Kränkung des Mittelstands

Ranglisten helfen, sich etwa vor einer Kaufentscheidung schnell einen Überblick zu verschaffen. Ständig zu vergleichen, kann aber eine Lebenshaltung werden, die in die Unzufriedenheit treibt.

Wir leben im Zeitalter der Vergleiche. Weil mehr Informationen verfügbar sind als je zuvor, der Einzelne aber Strategien finden muss, in der Flut nicht zu ertrinken, sind Vergleichslisten, Rankings, Charts beliebt. Da werden dann Universitäten aufgelistet nach Angebot, Komfort und Karrierepotenz oder kleine Restaurants, in denen es die besten Eintöpfe gibt, oder die Kinofilme der Woche nach ihrem Besucherzuspruch. Der Mensch sucht Orientierung und findet sie am bequemsten, indem er Angebote vergleicht.

Allerdings kann das Vergleichen auch zu einer Art Lebenshaltung werden - und dann richtet sich das Charts-Denken schnell gegen einen selbst. Denn Menschen vergleichen dann nicht mehr nur noch Dinge und deren Qualität, sondern schnell sind auch sozialer Status, Einkommen, Ansehen an der Reihe. Daraus kann etwas werden, was der Soziologe Theodor Geiger schon 1930 die "Angst vor Mindereinschätzung" genannt und als eine Ursache für die "Panik des Mittelstandes" bezeichnet hat: Menschen halten ihren sozialen Status für unangemessen, fühlen sich zu wenig beachtet, zu wenig wertgeschätzt. Sie vergleichen sich notorisch mit anderen, die es vermeintlich "geschafft haben" und womöglich mit schlechteren Abschlüssen bei geringerer Leistung lukrative Posten ergattern konnten.

Zugleich setzen sie voraus, dass andere mit ihnen selbst genauso verfahren. Sie erwarten also schon, dass auch sie selbst verglichen und bewertet werden, und möchten dabei nicht schlecht abschneiden. Der Soziologe Heinz Bude schreibt dazu, Ärger, Hass und Ressentiment vieler Menschen resultierten heute aus der Sorge, nicht den sozialen Rang zuerkannt zu bekommen, der einem aufgrund von Ausbildung und Qualifikation eigentlich zustehe.

Kränkung - dieses Gefühl verursacht Aggressionen. Und so ist manche Wut, die sich in unserer Gesellschaft auf der Straße entlädt, ob in Prügelattacken oder bei Demos gegen die vermeintlich bedrohlichen Anderen, in Wahrheit womöglich ein tiefsitzendes Gefühl mangelnder Beachtung und Wertschätzung. Das aber wird sich noch verstärken, wenn nur wenige die Vergleichsmentalität hinterfragen und nicht einüben, ihr Leben und ihre Entscheidungen nach eigenen Maßstäben zu bemessen.

Das soll nicht heißen, dass Ungerechtigkeit nicht anzuprangern wäre oder dass jeder hübsch zufrieden sein sollte mit dem, was er hat. Aber die Fühler immer nach den anderen auszurichten und sich einzubilden, man könne überhaupt abschätzen, wie zufrieden, glücklich und vor allem verdient die anderen leben, ist eine Haltung, die Kränkungen provoziert.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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