Kolumne: Gesellschaftskunde Die Verletzlichkeit jedes Einzelnen bedenken

Düsseldorf · Es gibt ein neues Bedürfnis nach markigen Worten. Das ist ein Reflex auf brutale Ereignisse, die jedem Einzelnen vor Augen geführt haben, wie verletzlich er ist. Dabei kann genau diese Einsicht Menschen verbinden.

Kolumne: Gesellschaftskunde: Die Verletzlichkeit jedes Einzelnen bedenken
Foto: Krings

Der Mensch ist ein verwundbares Wesen. Man könnte das vergessen in diesen Tagen, da so viel von Härte, Stärke, Durchsetzungswillen die Rede ist. Und in der Politik gerade jene Erfolg haben, die von "klarer Kante" sprechen, die "endlich durchgreifen" wollen und "null Toleranz" versprechen. Verbal ist in den vergangenen Monaten erstaunlich schnell aufgerüstet worden.

Natürlich ist Entschiedenheit eine Tugend, die Bürger zu Recht von jenen erwarten, die die Macht im Staate haben, die Weichen für die Zukunft stellen und Herausforderungen wie Zuwanderung in den Griff bekommen müssen. Doch das enorme Bedürfnis nach autoritärem Vokabular, nach Begriffen der Abgrenzung und Zurückweisung ist bedenklich.

Dabei kann aus der Zuwanderung der vergangenen Monate nur dann Positives für das Land erwachsen, wenn die Mehrheit der Deutschen nicht verhärtet und Neuankömmlinge weiter spüren, dass sie hier Chancen haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Statt mit Inbrunst über neue Wege der Grenzziehung nachzudenken, ist das viel drängendere Problem doch der Umgang mit den Menschen, die schon da sind — die eine Realität sind, ob gewollt oder nicht.

Natürlich hat das gestiegene Bedürfnis nach markigen Worten mit Ereignissen in den vergangenen Monaten zu tun, die gezeigt haben, wie verwundbar die offene Gesellschaft, wie verletzlich vor allem jeder einzelne Mensch ist. Wer das an sich heranlässt, wer mitfühlt mit den Opfern des Terrors und ihren Angehörigen, den kann die Wut packen. Und auf Wut folgt oft die Sehnsucht nach etwas Einfachem, Wirkungsvollem, Drastischem, das das quälende Gefühl von Unsicherheit schnell beseitigt. Doch es gibt eben einen Unterschied zwischen Härte und Konsequenz, zwischen dröhnenden Durchgreif-Versprechungen und dem nur scheinbar lahmen Appell, weiter auf die Mittel des Rechtsstaats zu vertrauen.

Deutschland mag sich selbst zu sehr gefallen haben in der Anfangseuphorie über die neue Fähigkeit, willkommen zu heißen. Da gab es moralische Überheblichkeit, auch Naivität. Doch der Impuls war richtig, und jeder Einsatz für konkrete Integration bleibt wichtig für das Miteinander — für die Lebensqualität in diesem Land. Der Mensch ist verletzlich. Es verlangt Stärke, sich dieser Wahrheit zu stellen.

Doch Verletzlichkeit ist auch eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die soziale und kulturelle Unterschiede trennt. Daran gilt es wieder zu erinnern, auch wenn die Sprache der Härte gerade besser zieht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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