Kolumne: Gesellschaftskunde Ein Leben als Einzelkämpfer macht krank

Immer mehr Beschäftigte leiden an Depressionen, das hat eine neue Studie gezeigt. Vielleicht liegt das nicht nur am wachsenden Stress am Arbeitsplatz, sondern an dem anstrengenden Gefühl, letztlich Einzelkämpfer zu sein.

Nun beginnt wieder die Zeit des Einigelns. Menschen machen ihre Gärten winterfest, rücken Blumentöpfe näher ans Haus, hüllen empfindliche Pflanzen in schützende Stoffe. Mit sich selbst verfahren sie ähnlich, die Mode schlägt es ihnen vor: Schals können in diesem Jahr gar nicht voluminös genug sein. Und obwohl die Temperaturen noch gar nicht so streng sind, sieht man schon jetzt viele Leute in wollig-weiche Mäntel gekuschelt, die Schultern in weite Strickponchos gehüllt, als gelte es, sich vor der Wirklichkeit zu schützen, als könne man sich durch die Kleidung einen Puffer schaffen gegen all die beunruhigenden Nachrichten unserer Zeit.

Womöglich hat dieses Bedürfnis nach Einhüllung und Molligkeit mit dem Verlust von Bindungen zu tun, die Menschen früher das Gefühl gaben, in einer Gemeinschaft geborgen zu sein. Der schwedische Publizist Göran Rosenberg hat für das naive Eingebundensein in ein überschaubares Miteinander, wie es früher etwa in dörflichen Strukturen gegeben war, den Begriff des "Wärmekreises" gefunden. Das ist ein treffendes Bild für etwas, das heute für viele Menschen nur noch als Sehnsucht existiert: Kreise, zu denen man nicht aufgrund von Leistung, Eignung, ökonomischer Logik gehört, sondern einfach weil es so ist, selbstverständlich, unreflektiert.

Natürlich können Familien, enge Freunde oder auch Vereine solche Kreise ersetzen. Doch das Kosten-Nutzen-Denken hält auch in Gemeinschaften Einzug, in denen früher nicht gefragt wurde: Was bringt mir das? Was hab ich davon? Wie lange lohnt sich das für mich? Menschen engagieren sich eine Weile, dann wenden sie sich wieder anderem zu. Das gesellschaftliche Miteinander funktioniert trotzdem, doch das Klima hat sich verändert: Bindungen stehen unter Vorbehalt, sind nicht mehr zutiefst verlässlich.

Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass so viele Menschen sich wie Einzelkämpfer fühlen und erschöpft sind von einem Leben, in dem sie sich ihre Beziehungen ständig neu verdienen müssen. Die Zahl der Beschäftigten, die wegen einer psychischen Erkrankung krank geschrieben werden, hat einen neuen Höchststand erreicht. Das hat gerade eine neue Studie ergeben. Neben vielen Stressfaktoren des Berufslebens mag der ewige Bewährungsdruck des modernen Menschen ein Grund dafür sein. Entlastung wird es nur geben, wenn Menschen wieder Zusammenhänge finden, in denen sie um ihrer selbst willen geschätzt sind und Schwächen zeigen dürfen. Höchste Zeit, die Glut in neuen Wärmekreisen zu entfachen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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