Kolumne: Gesellschaftskunde Familien fehlt die Zeit zum Streiten

Düsseldorf · Viele Familien ringen um gemeinsame Zeit. Dann soll die aber auch möglichst harmonisch verbracht werden. Konflikte werden vermieden, Zuneigung in materieller Form signalisiert.

 Unsere Autorin Dorothee Krings.

Unsere Autorin Dorothee Krings.

Foto: Krings

Der gesellschaftliche Wandel hat Familien viel Freiheit beschert: Rollenmuster sind nicht mehr so rigide festgelegt, Aufgabenverteilungen weniger vom Geschlecht abhängig. Vieles muss verhandelt werden - auch mit den Kindern. So bestimmt ein kooperativer Stil das Miteinander in der Familie. Harmonie ist das Ziel.

Nun ist gegen Frieden in der Familie natürlich nichts einzuwenden. Solange der nicht darauf beruht, dass die Erwachsenen Konfrontationen lieber aus dem Wege gehen. Und eben nicht darüber diskutieren, wie lange am Computer gespielt werden darf oder ob das Handy während des Abendessens auf dem Tisch liegen sollte oder ob das neue T-Shirt wirklich von dieser oder jener Marke sein muss. Erst in der Auseinandersetzung über solche Fragen bemerken Kinder ja, was den Eltern wichtig ist, welche Haltung sie einnehmen, wo die Grenzen verlaufen, die sie nicht überschreiten sollten.

Diese Haltung einzunehmen und sie ohne Aggression, aber verbindlich zu äußern und Kindern klarzumachen, dass das Gewicht hat, dass es ernst gemeint ist, dass es um etwas geht, braucht aber vor allem eins: Zeit. Auseinandersetzungen sind ja nur dann nicht verletzend, wenn sie in einer Atmosphäre der Zuwendung verlaufen. Wenn einer den anderen nicht abfertigt oder herabwürdigt, sondern Geduld hat, sich eine andere Sichtweise anzuhören. Und sich Zeit nimmt, den eigenen Standpunkt zu vermitteln.

Weil Familienleben heute aber oft in gewisse "Zeitfenster" gepresst ist und dann alles harmonisch ablaufen, jeder in seiner Rolle funktionieren soll, schwindet der Raum für echte Auseinandersetzungen. Stattdessen versuchen Eltern dann oft, ihre Liebe und Fürsorge in materielle Form zu gießen. Dann werden zu viele Klamotten gekauft, zu aufwendige Urlaube unternommen, Hobbys übermäßig ausgestattet. Dieses Verwöhnen ist eben nicht nur ein Ergebnis unserer Überflussgesellschaft, sondern auch greifbares Zeichen für Zeitmangel. Es verkörpert die mangelnde Bereitschaft, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, Diskussionen zu führen, Streiten zu üben. Bei allem beruflichen Stress soll die Familienzeit Entlastung bringen. Viele Eltern wollen dann nicht auch noch mit dem Nachwuchs streiten, und so gewinnen Vermeidungsstrategien Raum.

Womöglich geht es darum, Streit nicht als Niederlage, als Fehler im Familienalltag zu betrachten, sondern als besonders intensive Momente des Miteinanders. Natürlich kostet Streiten Kraft, doch die ist gut investiert.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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