Kolumne: Gesellschaftskunde Innere Unruhe ist das Empfinden unserer Zeit

Menschen müssen vielen Anforderungen genügen und sehen sich selbst im dauernden Konkurrenzkampf. So wird Nervosität zum Lebensgefühl. Und das Individuum verlernt, zweckfrei Zeit verbringen zu können.

Wenn Menschen in lockerer Runde beisammenstehen, die "Wie geht's"-Fragen austauschen, ist heute schnell von Erschöpfung die Rede. Von zu wenig Zeit, für das, was eigentlich wichtig ist. Vom dauernden Stress, den unterschiedlichen Ansprüchen im Alltag gerecht zu werden. Job, Kinder, Eltern, die gebrechlich werden und dazu der eigene Anspruch, ein erlebnisreiches Leben zu führen, sorgen für ein diffuses Gefühl des Ungenügens. Innere Unruhe ist das Empfinden unserer Zeit.

Diese tief ins Bewusstsein eingesickerte Nervosität bricht sich in vielen Lebensbereichen Bahn. Fiebrigkeit in der Wirtschaft, Schnellschüsse in der Politik, Hyperaktivismus in der Freizeit. Was der Mensch hingegen immer weniger kann, ist abwarten, nichts tun, Zeit verstreichen lassen.

Das Gefühl innerer Getriebenheit lässt sich auch nicht schnell mal ausknipsen. Man nimmt es mit aus dem Arbeitsstress ins Wochenende, unterwirft auch das Miteinander in der Familie Effizienzüberlegungen. Immer weniger darf einfach geschehen, darf sich aus dem Leerlauf entwickeln. Dabei ist Muße der Humus für Kreativität. Und zweckfreie Zugewandtheit die Voraussetzung für gelingende Beziehungen.

Erst wenn Menschen zum Beispiel längere Zeit im Ausland verbringen, eintauchen in Kulturen, in denen das sinnlose Plaudern und Zuhören, das Beisammensein, das Kollektiv noch wichtiger sind als das Individuum mit all seinen selbstverordneten und fremdbestimmten Leistungszielen, bekommen sie ein Gespür dafür, wie unruhig das Leben in der westlichen Konsumwelt tatsächlich ist.

Dagegen mit individuellen Mitteln anzukämpfen, sorgt oft für weiteren Stress. Dann muss man auch noch abends zum Yoga oder morgens im Schwimmbad seine Bahnen ziehen, um die Rückenschmerzen loszuwerden. Weil eben viel zu viel auf jedem Einzelnen lastet.

Das alles ist kein individuelles Versagen. Es hat mit der Konkurrenzkultur zu tun, die wir für gegeben halten, mit dem Gefühl, sich ständig gegen andere durchsetzen, eigenen Ansprüchen und fremden Anforderungen genügen zu müssen, mit unseren Vorstellungen von Anerkennung und Glück.

Alternativlos aber ist das alles nicht. Wer sich bewusst macht, was bei ihm die innere Unruhe schürt, was ihn anfällig macht für die Sucht nach immer neuen Reizen, hat den ersten Schritt getan. Es ist verführerisch, sich immer neu beweisen zu wollen. Sich selbst näher kommt man so allerdings nicht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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