Kolumne: Gesellschaftskunde Trügerische Sehnsucht nach Übersichtlichkeit

Immer mehr Menschen erfahren sich als ausgeliefert und fremdbestimmt. Da erscheint der Rückzug auf vermeintlich überschaubareres Terrain wie den Nationalstaat verlockend. Populisten wissen das zu nutzen.

 Dorothee Krings

Dorothee Krings

Foto: Krings

Wenn etwas dem Menschen Angst einjagt, dann ist es der Verlust von Kontrolle — im Kleinen wie im Großen. Einstellen kann er sich auf viele Zumutungen, er gewöhnt sich an Wetterturbulenzen, den Einsatz von Robotern, an neue Familienmodelle, Partnerschaftsformen. Die Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten waren enorm, haben vielen nicht behagt, doch erschienen sie dem Einzelnen als alternativlos und irgendwie beherrschbar. Als der Gang der Dinge. Doch wenn Menschen das Gefühl bekommen, ihnen entgleite etwas, sie seien ausgeliefert an Situationen, die sie weder überschauen noch bestimmen können, dann reagieren sie panisch und meist auch aggressiv.

Darum war es der geschickteste Schachzug der Europagegner in Großbritannien, ihr "Take back control" auszurufen. Die Menschen also mit der Illusion zu ködern, sie könnten sich die Macht über ihre Geschicke zurückerobern. Dabei ist Ungewissheit doch ein Kennzeichen der Moderne. Die Menschen liegen ja nicht falsch, wenn sie sich als ausgeliefert und fremdbestimmt erleben. Nur lässt sich dieser Zustand nicht abwählen. Und daran sind auch die Flüchtlinge nicht schuld. Man kann aus der EU austreten, doch man verlässt damit nicht die Gegenwart mit einem Gesellschaftssystem, das bei immer mehr Menschen Ohnmachtsgefühle erzeugt.

Das nutzen die Populisten. Und sie verquicken die Illusion von der Rückeroberung der Kontrolle noch mit territorialen Vorstellungen. Behaupten, durch eine Ablösung von der EU, ein Gesundschrumpfen auf nationale Grenzen, werde das Leben wieder überschaubar, beschaulich, weniger Fremdheitserfahrungen ausgesetzt. Der alte Nationalstaat als Insel der Glückseligen ist nicht nur für Briten ein Sehnsuchtsbild.

Dagegen lässt sich nicht argumentieren, Ängste lassen sich nie wegreden. Man kann ihnen nur begegnen, etwa durch den Blick auf die Wirklichkeit. Man muss nur auf die Klingelschilder in der Nachbarschaft schauen, auf die Namen der Kollegen, die Zusammensetzung deutscher Schulklassen, um zu begreifen, dass es nationale Homogenität nicht gibt. Dass Menschen immer mit kultureller Vielfalt umgehen mussten - und daran gewachsen sind, solange sie sich nicht von Angst beherrschen ließen. Natürlich müssen Fehler bei der Flüchtlingsintegration benannt und behoben werden. Natürlich ist die EU ein elitärer Apparat und muss sich Fragen nach seiner Legitimation gefallen lassen. Doch es gibt kein Zurück in einfachere Zeiten. Die Verhältnisse, sie sind nicht so.

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(RP)
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