Kolumne: Gesellschaftskunde Niemand ist dem Handy ausgeliefert

Viele Menschen klagen über dauernde Erreichbarkeit und schalten das Handy trotzdem nie ab. Das werden wir lernen müssen, wollen wir der totalen Zerstreuung entkommen.

Der Mensch liebt Technik, die ihm das Leben bequemer macht. Und er wird gern durch immer neue Reize stimuliert. Von Bildern und Geschichten von Fremden oder Freunden kann er gar nicht genug bekommen. Darum legen viele Leute das Handy kaum noch beiseite. Sie klagen darüber, empfinden den Stress dauernder Erreichbarkeit, aber lassen können sie es nicht. Und so verfestigen sich die Gewohnheiten. Und irgendwann erscheint das Gemacht als Gegeben, und die Verhältnisse wirken alternativlos.

Allerdings hat das Folgen. Denn der ständige Blick aufs Handy, ins Internet, in die sozialen Netzwerke verringert die Aufmerksamkeitsspanne von Menschen und damit ihre Konzentrationsfähigkteit. Die Wissenschaft hält diese Veränderungen fest in immer neuen Studien. Jüngstes Beispiel: Über 60 Prozent der Kinder im Alter von neun und zehn Jahren gelingt es nicht, sich eine halbe Stunde lang ohne Fernseher oder den Computer zu konzentrieren. Das hat eine Umfrage in ein paar Kinderarzt-Praxen in NRW ergeben, an der Eltern wie Kinder beteiligt waren.

Die kleine Studie ist nur eine Momentaufnahme, aber das Ergebnis als Tendenz doch bezeichnend. Denn der Drang, sich ständig neue Anreize zu verschaffen, verringert nicht nur das Vermögen, sich in seine Aufgaben zu vertiefen. Er hinterlässt auch das Gefühl, großer Zerstreutheit, ständiger Überlastung und Stressüberflutung. Wer verlernt, einer Tätigkeit mit ganzer Aufmerksamkeit nachzugehen, der verpasst auch das Glücksgefühl echter Versenkung. Den Flow.

Viele Menschen halten das aber für den Lauf der Dinge, für etwas, das über ihr Leben einbricht und aus dem es kein Entkommen gibt. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass wir erst am Beginn des digitalen Zeitalters leben. In den kommenden Jahrzehnten wird der Mensch eine Haltung entwickeln müssen zu all den digitalen Möglichkeiten, die Teil seines Lebens werden wollen. Es gilt die neuen Medien klug zu nutzen, ohne Vorbehalte, ohne Ängste, aber auch, ohne menschliche Fähigkeiten wie die Versenkung oder die emotionale Begegnung mit dem Nächsten aufzugeben.

Garantiert ist das nicht. Doch der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und sein Handeln zu überdenken. Mögen die Verhältnisse auch mächtig erscheinen, so ohnmächtig ist der Einzelne nicht. Man kann das Handy auch mal zu Hause lassen. Und wenn einem das allzu schwer fällt, ist es höchste Zeit für den Versuch.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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