Gesellschaftskunde "Selfie" – unser digitaler Blick in den Spiegel

Die Inflation der fotografischen Selbstporträts im Internet belegt, dass Selbstkontrolle ein Zwang unserer Zeit ist. Zu entkommen ist ihm nur, wenn wir das verbissene Vergleichen aufgeben.

Vielleicht waren die Menschen von der Erfindung der Fotografie deshalb so fasziniert, weil sie mit diesem neuen Apparat der Wirklichkeit Herr werden konnten. Ein Puff, ein wenig chemische Frickelei, dann war die Realität gebannt, auf übersichtliches Format gebracht, wurde all dem Rauschen der industrialisierten Moderne Einhalt geboten, der flüchtigen Zeit ein stillgehaltener Moment abgerungen.

Und es war der Mensch, der den Moment bestimmen konnte. Seither hat die Fotografie allerhand Entwicklungen durchgemacht. Die neueste ist das Selfie. Das Oxford English Dictionary hat den Begriff zum "Wort des Jahres 2013" erklärt. Selfies sind Selbstporträts auf Armeslänge. Menschen machen, meist mit ihrem Mobiltelefon, Aufnahmen von sich und stellen sie ins Internet. So dokumentieren sie in den sozialen Netzwerken, wie sie aussehen, wo sie gerade sind — dass sie sind.

Nun ist es naheliegend, im Selfie den Beleg für den Narzissmus unserer Zeit zu sehen. Man macht keine Naturaufnahmen, steifen Gruppenfotos oder Familienbilder mehr, sondern setzt sich selbst in Szene. Seht her, das bin ich. Und so wichtig nehm' ich mich. Vielleicht ist es aber auch anders, und das Selfie ist der alte Versuch, mit der Wirklichkeit fertig zu werden. Dann diente es nicht so sehr der Selbstdarstellung als vielmehr der Selbstkontrolle: Die Fotografen wollen selbst wissen, wie sie aussehen, wollen sich in Ruhe begutachten.

Und wenn das Geknipste den eigenen Erwartungen entspricht, wenn es jene Ideale erfüllt, die die Werbung den Menschen beibringt, dann kann das Bild hinaus in die Welt. Das Selfie als digital festgehaltener Blick in den Spiegel. Dann wären diese Selbstporträts nicht so sehr Beleg modernen Narzissmus' als vielmehr moderner Angst, nicht zu genügen, der Konkurrenz nicht standhalten zu können.

Das erklärt auch, warum viele Menschen bewusst Fratzen schneiden, wenn sie Selfies anfertigen: So unterwandern sie den Schönheitsvergleich mit den Millionen anderen Selfies, die sich im Netz produzieren.

Die Fratze ist die Kapitulation vor dem Konkurrenzkampf getarnt als Witz. Die Inflation der Selfies im Internet belegt, dass Selbstkontrolle ein Zwang unserer Zeit ist. Zu entkommen ist ihm nur, wenn wir das verbissene Vergleichen aufgeben und es als Vielfalt begreifen, wenn einer von der Norm abweicht, nicht als Versagen. Es ist befreiend, so in die Welt zu blicken. Und in den Spiegel.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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