Gesellschaftskunde Von der Angst im Zahnarztstuhl

Patienten werden immer sensibler und erwarten besonderer Behandlung ihrer Angst. Der moderne Mensch empfindet sich als Kunde – nicht nur im Behandlungsstuhl.

Die Zahnärzte haben die Angst entdeckt. Überall gibt es jetzt Praxen, die damit werben, dass sie sich besonders einfühlsam auf Angstpatienten einstellen. Da werden zur Behandlung Kopfhörer gereicht, um die Bohrgeräusche mit Wunschmusik von Mozart bis Metallica zu überlagern, Praxiszimmer werden in sanften Beruhigungsfarben gestrichen, Medizingerüche durch Blumendüfte ersetzt. Das Personal wird geschult, die Zeichen der Furcht zu erkennen und im Fall der Panik Patienten sanft dazu zu bewegen, im Behandlungsstuhl sitzen zu bleiben.

Das alles ist hilfreich. Und wer die Fluchtfantasien kennt, die einem im Wartezimmer in den Sinn kommen – die nackte Angst vor dem Ausgeliefertsein oder auch nur vor dem hohen Ton des Bohrers –, der wird solche Angebote dankbar annehmen. Doch es ist bemerkenswert, dass sich Menschen früher schlicht dazu zwangen, das Unangenehme über sich ergehen zu lassen, während sie heute totale Empathie erwarten.

Natürlich ist es ein Zeichen des Fortschritts,wenn Ärzte Erkenntnisse der Psychologie nutzen, um Angstgefühle von Patienten zu beherrschen. Das verringert Leiden – schließlich ist Panik im Behandlungsstuhl mindestens so unangenehm wie das Bohren selbst. Zugleich zeigt die neue Einfühlsamkeit auf dem Medizinmarkt allerdings, wie feinnervig der moderne Mensch geworden ist, wie er für sich in Anspruch nimmt, psychologisch ausgefeilt behandelt und von Schmerzen verschont zu werden. Der Patient von heute will in jeder Gefühlsregung ernstgenommen und getröstet werden.

Natürlich ist das auch eine Folge der Kommerzialisierung auf dem Gesundheitsmarkt. Wer immer mehr Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen muss, der empfindet sich eben nicht mehr als Patient, sondern als Kunde. Und Kunden fügt man keine Schmerzen zu, man quält sie nicht mit Bo hrgeräuschen und antiseptischen Gerüchen, man versucht ihnen die Minuten unter der Behandlungslampe so angenehm wie möglich zu machen.

Die Haltung des Kunde-Sein wird mehr und mehr zum Lebensgefühl auch in anderen Bereichen. Lehrer etwa können ebenfalls davon berichten, wie sie als Dienstleister behandelt werden. Wer sich aber einrichtet im Konsum-Lebensgefühl, läuft Gefahr zu glauben, er habe Anspruch auf ewigen Komfort. Schmerzen gehören aber zum Dasein. Und es kann heilsamer sein, Schmerzlichem direkt zu begegnen, als nach immer neuen Betäubungen zu suchen. Seien sie auch so wohlklingend wie Mozart.

Ihre Meinung? schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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