Kolumne: Gesellschaftskunde Von der Gefahr, das Improvisieren zu verlernen

Es gab eine Zeit, da sind Kuchen im Ofen schon mal missglückt. Dann wurde beraten, experimentiert, generationenübergreifend gefachsimpelt und am Ende Grießpulver in den Käsekuchenteig geschmuggelt oder Puddingpulver eingerührt, bis die Torte nicht mehr einfiel. Heute gibt es Backmischungen mit Fertigverzierung und Erfolgsgarantie, man tauscht sich nicht mehr über Rezepte aus, sondern über die Marken der Fertigprodukte. Möbel kommen im erprobten Bausatz mit Anleitungen ohne Worte. Kinder knüpfen nach vorgegebenen Mustern Armbänder aus Gummi-Ösen oder bringen es in Computerspielen, deren Regeln sie vom Gerät selbst lernen, zu erstaunlicher Geschicklichkeit. Der Mensch ist zum perfekten Anwender geworden; zu improvisieren ist nicht mehr gefragt.

Das ist ein Verlust, denn Improvisation verlangt und fördert Einfallsreichtum, Originalität und den Mut, Dinge auch unkonventionell zu Ende zu bringen. Oft ergeben sich dann Überraschungen, die weitere Einfälle provozieren. Der Mensch lernt beim Improvisieren, und er erlebt sich selbst in seiner Freiheit. Er kann seinen Geist benutzen, seine handwerklichen Fähigkeiten anwenden, sein Erfahrungswissen ausspielen und eigene Wege gehen. Er kann Lösungen finden, neue Dinge schaffen, sich seine Umwelt ein Stück zu eigen machen und darin die eigene Persönlichkeit entfalten.

Natürlich bedeutet das auch, Fehlversuche hinzunehmen. Improvisation endet manchmal schlicht in Huddelei. Darum ist heute so viel genormt, geregelt, bis ins Detail vorherbestimmt. Arbeitsabläufe sollen effizient funktionieren und erwartbar sein. Jedes Experiment ist ein Risiko, das Zeit und Geld kosten könnte. Darum ist Improvisation keine lohnende Strategie.

Trotzdem ist heute ständig von Kreativität die Rede, werden selbst für simple Tätigkeiten kreative Bewerber gesucht. Man schätzt Querdenker wegen ihres innovativen Potenzials, hofft auf deren Glückstreffer. Doch zugleich wird der Raum zum Herumprobieren enger, muss alles immer gleich funktionieren und Gewinn abwerfen, werden Entwicklungsprozesse eng abgesteckt. Kreativität kann es aber nur geben, wenn Menschen die Freiheit bekommen, Bekanntes anders einzusetzen, Versuche zu starten, Pläne über Bord zu werfen. Das bedeutet Kontrollverlust - und Umwege in Kauf zu nehmen.

Früher sind Kuchen häufiger misslungen. Dafür haben sie nicht alle gleich geschmeckt. Man wird nicht als Anwender geboren, man wird dazu gemacht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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