Kolumne: Gesellschaftskunde Warum Netzwerken so anstrengend ist

Viele Menschen fühlen sich bedrängt von den Anforderungen des Alltags. Das mag an steigender Arbeitsbelastung liegen, vielleicht aber auch an wachsenden Unsicherheiten: etwa darüber, wer man eigentlich ist.

Vielleicht hat es nicht nur mit der Verdichtung von Arbeitsprozessen zu tun, dass der Mensch sich so unter Druck fühlt. Viele klagen ja gar nicht darüber, dass sie viel arbeiten müssen. Vielmehr empfinden sie sich als bedrängt, weil sie spüren, die Arbeit raube ihnen etwas: die Zeit für Freunde, Familie, soziales Leben - ihr privates Ich. Die innere Beklemmung ist also nicht so sehr Ausdruck von Überarbeitung und Erschöpfung. Sie speist sich aus Verpassensangst, aus einem Gefühl des Ungenügens, der unerfüllten Ansprüche, der Angegriffenheit einer ohnehin fragilen privaten Sphäre.

Vielleicht hat das innere Druckempfinden jedoch auch damit zu tun, dass Identitäten heute viel unbestimmter sind als in früheren Zeiten, denn Unsicherheit erzeugt immer Stress. Früher wurden Menschen in Stände geboren, waren Sohn eines Handwerksmeisters und lebten in dieselbe Tätigkeit hinein. Das soziale Gefüge war starr, das Individuum hatte wenig Freiheit, aber die sozialen Bindungen waren sicher. Selbst als die feudalen Strukturen sich überlebt hatten, als die Menschen begannen, nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu rufen, waren die sozialen Strukturen noch vorgegeben und beständig. Der Einzelne wuchs darin auf, konnte dagegen rebellieren, wusste aber stets, wer er war und was von ihm erwartet wurde.

Heute leben wir im Zeitalter der Vernetzung. Menschen schaffen sich Netzwerke, in denen sie leben, arbeiten, kommunizieren. Diese Netzwerke sind nicht gegeben. Der Einzelne knotet sie nach Bedarf, nimmt Kontakte auf, bricht andere Beziehungen ab. Das funktioniert frei, ungezwungen, bedarfsorientiert. Der Einzelne bestimmt und managt sein Netzwerk und darf sich im Zentrum der Aufmerksamkeit fühlen. Doch damit erschafft er erst seine eigene Identität. Es gibt keine vorgegebene Zugehörigkeit mehr, die ihm die Last der eigenen Bestimmung abnähme. Er muss sich selbst darum kümmern, Teil einer identitätsstiftenden Gruppe zu werden, muss diese sogar schaffen.

Das befreit von Zwängen, unter denen Menschen früher gelitten haben. Das befreit auch von falschen Konventionen etwa der Geschlechterrollen. Man muss als Frau heute nicht mehr an den Herd. Aber man muss durch das Netzwerk, das man um sich knotet, selbst bestimmen, wer man ist und was man darstellt. Und weiß zugleich, dass Dauer und Verlässlichkeit solcher Bindungen begrenzt sind. Das verunsichert tief im Innern. Das ermüdet. Das ist der wahre Stress des modernen Menschen, der nicht mehr gesagt bekommt, wer er ist.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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