Kolumne: Gesellschaftskunde Wettkampf der Lebensstile

Düsseldorf · Die einen feiern ihren total individualisierten Lebensstil, die anderen suchen Halt in Gruppen, zu denen nicht jeder gehören soll. Das Bedürfnis ist ähnlich: Abgrenzung und Ausgrenzung sollen das Selbstwertgefühl steigern.

Kolumne: Gesellschaftskunde: Wettkampf der Lebensstile
Foto: Krings

Mit der Moderne ist das Individuum erwacht - und was es tat, dachte, fühlte, hoffte, wurde seither immer wichtiger. Der Einzelne ist zur einzig gültigen Instanz geworden, es geht um seine Selbstdarstellung, seine Weltwahrnehmung. Es geht ums Ich - und wie es die Welt sieht.

Das ist Freiheit und Bürde zugleich. Der Einzelne ist nicht mehr gefangen in den Zwängen, die früher Berufsstand, Herkunft und die Institutionen von Recht und Moral mit sich brachten. Doch das befreite Subjekt ist auch einsam und haltlos geworden. Und die urmenschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Anerkennung durch die anderen ist ihm geblieben.

Manche Menschen versuchen, sich diese Anerkennung zu verschaffen, indem sie ihren Individualismus ausleben, ihren Alltag immer aufwendiger zelebrieren, ausgefallene Dinge unternehmen, spezielle Hobbys pflegen, an einer ungewöhnlichen Biografie schnitzen. Sie wollen als hochpotentes Individuum mit Selbstverwirklichungsgeschick gesehen und geachtet werden. Darum werden die Feiern besonderer Abschnitte im Lebensweg wie Abi oder Hochzeit immer aufwendiger. Der eigene Werdegang soll etwas Besonderes sein; der Einzelne wendet immer mehr Kraft und Geld auf, um sich einzigartige Erlebnisse zu verschaffen, die seinen Wert bestätigen.

Zugleich gibt es Tendenzen in der modernen Gesellschaft, die umgekehrt funktionieren: Menschen wollen zu Gruppen gehören. Sie erhöhen ihren Selbstwert, indem sie sich als Teil eines stärkeren Ganzen definieren, etwa als Teil einer Nation. Ähnlich wie der zelebrierte Individualismus dem Einzelnen Selbstwert beschert, kann auch eine Gruppe diese Funktion übernehmen und mit ihren Identitätsangeboten den vereinzelten Subjekten Rückhalt bieten. Anerkennung von jenen, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen. Und sich abgrenzen von den anderen.

Auf der einen Seite also der Drang, sich als unabhängiges Ich zu inszenieren, auf der anderen Seite die Selbstüberhöhung durch Bezug auf eine exklusive Gruppe. Abgrenzung und Ausgrenzung - beides beruht auf der Sehnsucht, als Mensch wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Eben nicht nur die Nummer zu sein, die in der modernen Arbeitswelt jederzeit ersetzbar, in der modernen Beziehungswelt mit ein paar Klicks austauschbar ist. In der rationalen, konsumorientierten Moderne ist es schwer, sich selbst nicht abhanden zu kommen. Wahre Wertschätzung aber beginnt bei einem selbst.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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