Kolumne: Gesellschaftskunde Wir sollten gnädig mit uns selbst sein

Eine kritische Haltung zu sich selbst hilft, eigene Schwächen zu erkennen. Doch viele Menschen sind viel zu streng mit sich und nähren so ein Gefühl der Minderwertigkeit.

Der Mensch wächst mit Bewertungen auf. Schon zu den ersten Schritten, mit denen er ins Leben wankt, sagt man ihm, das habe er aber gut gemacht. Später gibt es Zeugnisgeld oder Stubenarrest, wenn die Noten nicht gefallen. Und schon bald hängt sogar die Existenz des Einzelnen davon ab, wie gut er sich dem Arbeitsmarkt anpasst und bereit ist, den geforderten Einsatz zu erbringen.

So verinnerlichen viele das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, in allem, was sie tun, bewertet zu werden - und übernehmen diese Aufgabe gleich selbst. Sie entwickeln eine innere Stimme, die ohne Pause resümiert, wie sie sich gerade verhalten und womöglich auf andere gewirkt haben.

Dabei gehen die meisten Selbstkritiker nicht freundlich mit sich um. Sie bezichtigen sich selbst, wahlweise dumm, begriffsstutzig oder uncharmant gewesen zu sein, eine schlechte Figur gemacht und schon wieder Ansprüchen nicht genügt zu haben. Diese Glaubenssätze sind gefährlich, denn schnell setzen sie sich fest. Mancher hat sie schon so oft zu sich selbst gesprochen, dass er den eigenen Beschimpfungen glaubt, sie für eine objektive Wahrheit hält.

Dann wird aus Selbstkritik Selbstzweifel. Und diese Zweifel können so massiv werden, dass Menschen sich nichts mehr zutrauen. Stehen dann im Beruf oder privaten Umfeld anspruchsvolle Aufgaben an, hören sie schon die innere Stimme, die ihnen zuruft, dass sie mal wieder scheitern werden.

Selbstkritisch zu sein, ist aber nicht unbedingt ein Zeichen von Bescheidenheit oder gar Redlichkeit. Vielmehr kann es auch eine bequeme Haltung sein, sich selbst beständig abzuwerten. Das schützt wie ein umgekehrter Fluch vor der negativen Bewertung durch andere. Wer sich selbst schlechtmacht, kann im Urteil Dritter kaum negativer abschneiden. Auch erwarten manche Schlechtredner insgeheim, dass andere ihnen widersprechen und sie ermahnen, nicht so streng zu sich zu sein. Dann ist Selbstkritik nur ein Fischen nach Komplimenten.

Viel gewinnender ist es aber, wenn Menschen sich etwas zutrauen und mit gesundem Selbstbewusstsein handeln. Das kann allerdings nur geschehen, wenn sie in einem Klima leben, in dem Irrtum nicht bestraft und Scheitern als Voraussetzung jedes Lernprozesses verstanden wird. Es kann heilsam sein, ab und an zu überlegen, was man sich selbst Tag für Tag so ins Gewissen redet. Der Mensch in der Leistungsgesellschaft wird genug getrimmt, sich ständig zu verbessern - er muss wieder lernen, gnädig zu sich zu sein.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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