Gesellschaftskunde Zwang zur Harmonie tut anderen Gewalt an

Viele Menschen haben Angst vor Spannungen in Partnerschaft und Familie. Sie haben schon als Kind gelernt, dass sie "lieb sein sollen". Dabei gewinnt man nur in Auseinandersetzungen für andere Menschen Kontur.

Gesellschaftskunde: Zwang zur Harmonie tut anderen Gewalt an
Foto: Krings

Anfängen, das wissen alle, die jemals im Leben bei Hermann Hesse Rat suchten, soll ein Zauber innewohnen. Eine wohltuende Kraft, Gewohntes hinter sich zu lassen, Lähmendes abzustreifen, Neues zu versuchen. Denn am Ende wird nicht das bequeme Leben ein erfülltes gewesen sein, sondern eines, das offen blieb für Wandel.

Trotzdem kann einen gerade nach dem Jahreswechsel eine Melancholie beschleichen, eine seltsame Erschöpfung angesichts der vielen Monate, die da so unverbraucht und rein von allen Fehlversuchen vor einem liegen. Und gelebt werden wollen.

Harmonie um jeden Preis ist ein Akt der Gewalt

Manchmal liegt die Ursache für diese Melancholie in einer heimlichen Sehnsucht nach Rückzug, Spannungsfreiheit — nach Harmonie. Diese Sehnsucht ist verständlich — und nicht die schlechteste Regung im Menschen, doch in ihr wohnt auch eine Gefahr. Denn Harmonie ist oft nur um den Preis zu haben, dass man Unbequemes ausblendet. Für eine gewisse Zeit klappt das manchmal in Partnerschaft und Familie. Und in Zeiten, da so viele Menschen sich als Einzelkämpfer durchs Leben schlagen, in Konkurrenzverhältnissen bestehen müssen und das Zutrauen in Bindungen verlieren, sind Erlebnisse von friedlichem Beisammensein ja durchaus ein Geschenk.

Harmonie um jeden Preis aber ist ein Akt der Gewalt. Denn was die Harmonie stören könnte, wird niedergerungen, totgeschwiegen, ausgeblendet. Das kann schmerzvoller sein, als unbequeme Wahrheiten zuzulassen und auszusprechen.

Harmonie hat die Tendenz zur Vereinnahmung, zu Enge und Unfreiheit. Ängstliche Harmonie gestattet dem anderen nicht, zu sein, wie er ist. Sie nötigt ihn zu Anpassung, vielleicht sogar zu Schauspielerei, diese Form erzwungener Nähe hat nie mit Liebe zu tun.

Viele Menschen tun sich dennoch schwer, Spannungen zuzulassen. Sie möchten perfekte Partner oder Bilderbuchfamilien sein. Schon als Kind hat man ihnen beigebracht, dass sie "lieb sein" und sich nicht streiten sollen. So wird Harmonie zum Ideal.

Dabei ist ein herzhafter Streit eine taugliche Art, für den anderen Kontur zu gewinnen, ihm zu zeigen, wofür man steht, woran man glaubt, was einen verletzt, wo die eigenen Grenzen verlaufen. Solchen Konflikten aus dem Weg zu gehen, kann mit Angst zu tun haben oder mit Bequemlichkeit. In jedem Fall nimmt der Harmoniesüchtige sich die Chance, zu spüren, wie stark und belastbar Bindungen sein können. Ein guter Streit ist ein Geschenk.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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