Gott Und Die Welt Gewalt ist auch Sprachlosigkeit

Massive Gewalt hat immer eine Vorgeschichte. In ihr kommt oft die Verachtung für ein Gemeinwesen zum Ausdruck, an dem nicht alle in gleicher Weise teilhaben können.

 Unser Autor Lothar Schröder.

Unser Autor Lothar Schröder.

Foto: Schröder

Es gibt ein Wort, das es uns leicht macht, sich mit den Gewaltexzessen auf Hamburgs Straßen nicht wirklich auseinandersetzen müssen: indem wir die Täter pauschal Chaoten nennen. Weil Chaoten eben Chaoten sind, also unergründlich, irrational und allein darauf bedacht, alle Ordnung aufzulösen. Bei den Griechen war Chaos die finstere Kehrseite vom Kosmos. Darum scheint das Chaos nicht nur robuste Gegenreaktionen zu rechtfertigen, sondern auch unsere Weigerung, über die Täter nachzudenken und in ihren Aktionen ein mögliches Symptom unserer Zeit zu sehen. Das wäre anstrengender als eine schnelle Verurteilung. Wer die Wut zu verstehen sucht, entschuldigt keine Gewalt. Sie ist nie gerechtfertigt. Und ihre Eskalationen beginnen nicht erst mit dem dritten brennenden Einsatzwagen. Weil jeder Gewalttat eine Eskalation im Kopf vorausgeht: Es ist die Eskalation des Verstandes.

Gewalttäter sind nur dem Augenschein nach die Starken. Gewalt ist oft ein Indiz für Sprachlosigkeit, ein Zeichen auch von Hilflosigkeit. In einer offenen Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit als hohes Gut gehandelt wird, erscheint der Gewalttätige der Schwache zu sein, der gesellschaftlich Abgehängte, Perspektivlose. Was ihm bleibt, ist dann nur noch Zerstörung. Wutausbrüche in massiver Form haben nur selten "Eventcharakter", auch wenn sie sich in der Regel wegen der Aufmerksamkeitsgarantie auf prominente Ereignisse beziehen; denn sie versprechen höchste Beachtung für die ansonsten Unbeachteten. Dennoch hat der Zorn meist eine Vorgeschichte. Es gibt etliche Soziologen, die den Wunsch nach Zerstörung als einen Teil moderner Gesellschaften beschreiben. Natürlich kommt darin viel Verachtung für ein Gemeinwesen zum Ausdruck, an dem Menschen nicht teilhaben und in dem sie nicht integriert sind. Was prekärer ist: In globalisierten Gesellschaften findet sich für die Randständigen nur schwer ein Tor zum Wiedereinstieg; zudem gibt es für ihre Kritik keine feste Anschrift. Die Welt um sie herum kann so zu einem monströsen, kaum fassbaren Ungetüm geraten. Wo findet etwa Kapitalismuskritik noch ein Ventil in Zeiten eines etablierten Welt- und angestrebten Freihandels? Die Dynamik der globalisierten Gesellschaft hängt einzelne Menschen schneller ab, als ihnen lieb sein kann.

Es dürfte kaum möglich sein, die Motive der Gewalttäter exakt zu ermitteln. Es dürfte ein ungutes Gemisch aus Frust, Ressentiment und natürlich auch aus Neid sein. Und wo kann sich Gewalt effektvoller bahnbrechen als beim Treffen der Mächtigsten dieser Welt? Wer, wenn nicht sie, soll für ihr Unglück verantwortlich sein? Die Staatschefs werden davon bestenfalls am Rande etwas mitbekommen. Die lauschten gestern in der Elbphilharmonie der "Ode an die Freude" - mit dem Vers: "Alle Menschen werden Brüder".

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(RP)
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