Kolumne: Gott Und Die Welt Mobilität ist nicht alles

Der erste Herbststurm hat viele unserer Zeitpläne durcheinandergeworfen. Eine Katastrophe? Kaum. Denn ab und zu hilft auch der Stillstand, zur Besinnung zu kommen.

Nervig war es, lästig, irgendwie überflüssig und - wenn wir ehrlich sind - beinahe unerhört. Wie also Xavier, einer der ersten Herbststürme des Jahres, unsere Reisepläne und schließlich unsere schönen Tagespläne kräftig durcheinanderrüttelte. Ein Ausnahmezustand! Ist das nun eine unangemessene Reaktion? Selbstverständlich, vor allem in Anbetracht der Todesopfer. Aber selbst für die kleineren und etwas größeren Irritationen unseres Alltags ist diese Empörung überzogen.

Die Hysterie scheint ein Symptom unseres Lebens in einer Gesellschaft zu sein, in der Mobilität und Geschwindigkeit fast alles sind. Unser Alltag ist durchgetaktet. Wer dann aus dem Tritt gerät, muss sehen, wo er bleibt. Nirgends wird das so anschaulich wie in der Eisenbahn, diesem Zugpferd der Industrialisierung, das sich als Dinosaurier bis ins 21. Jahrhundert geschleppt hat.

Bahnfahren ist nur noch selten ein Reisen. Im Zugabteil finden sich - je nach Strecke und Uhrzeit - überwiegend Menschen, die an ihrem Rechner arbeiten. Was für ein Segen: Während wir durch den Raum jagen, verschicken wir gleichzeitig weltweit Ideen, Pläne und Termine. Dementsprechend störend sind die Haltepunkte, die fast nur noch Durchgangsstationen sind und am besten ins Unterirdische verlagert werden wie demnächst in Stuttgart.

So vorsintflutlich es klingt: Ich liebe Kopfbahnhöfe wie jene in Frankfurt oder Leipzig. Das sind Orte, an denen Ankunft sichtbar, erfahrbar und fast ein bisschen gefeiert wird. Die Bahn fährt bis zu einem Prellbock, dem Ende. Angekommen, da sein. Wer hier aussteigt, empfindet viel stärker ein Ziel. Natürlich dauert alles länger: die betuliche Einfahrt in den Bahnhof, Aufenthalt, Ausfahrt.

Keine Frage, das ist ein gehöriger Zeitverlust. Deshalb sind Kopfbahnhöfe auch aus der Mode gekommen. Sie widersprechen unserer Effizienz. Dabei ist "Zeitverlust" ein genauso komisches Wort wie "Zeitersparnis". Denn wem gegenüber geht Zeit verloren und wohin verloren; wer führt das Konto, auf dem wir Zeit ansparen können? Sich daraus einfach auszuklinken, dürfte kaum machbar sein. Doch bei Ereignissen wie Xavier, bei denen nichts mehr geht und die Notübernachtungen in Zügen und fernen Städten nötig werden lassen, kann man lernen, auch einmal den Stillstand zu akzeptieren. Er gehört zum Leben.

Nicht selten hat er auch etwas Gutes, Unerwartetes. Viele von uns Reisenden, die durch den Sturm ein bisschen aus der Bahn ihrer Zeitpläne geworfen wurden, werden die Erfahrung gemacht haben, dass auch durch die Verzögerung kaum etwas Unwiederbringliches verpasst wurde. Mobilität ist gut und oft ein Segen. Doch schadet es nicht, sich von Zeit zu Zeit von ihr zu emanzipieren und ihr Gegenteil schätzen zu lernen. Man könnte es Besinnung nennen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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