Kolumne: Mit Verlaub! Dumme deutsche Selbstgeißelung

Schnell halten wir Deutsche uns für die Tollsten unter der Sonne. Ebenso flink sind wir gewillt, uns an den Pranger zu stellen oder stellen zu lassen.

Es irritiert sehr, wie fix wir Deutsche emotional von einem Extrem ins andere geraten - von Selbstüberschätzung zur Selbstgeißelung. Die Mahnung, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, erscheint wie für uns erfunden. Da las ich in der Woche nicht voll bewiesener Vorwürfe gegen den DFB die Textankündigung eines Internet-Autors. Er hatte die reißerische Überschrift gewählt: "Deutschland - nur noch das Volk der Bestecher und Bestochenen?"

Zur Vorgeschichte: Der "Spiegel" hatte zum Halali gegen wichtige Wegbereiter der grandiosen Heim-WM vor neun Jahren geblasen. Umgehend stießen schussbereite deutsche Jäger ins gleiche Horn - nacheilender Gehorsam einer leicht erregbaren deutschen Gesellschaft, die das erlösende Signal "Sau tot" ersehnte. Überlegungen, ob hier womöglich die Tatbestände des Jagdfrevels erfüllt worden seien, wurden anscheinend kaum angestellt. Die Sau namens DFB wurde durch deutsche Dörfer getrieben, durch jene Dörfer, in denen vor neun Jahren der (zugegeben: auf Nicht-Fußballer kindisch wirkende) Jubel vom Fußball-Sommermärchen hallte. Ich frage mich: Kann es wirklich sein, dass sich die freudentrunkenen, immerfort "Wahnsinn!" kreischenden oder auch lallenden Deutschen von 2006 im Herbst 2015 einreden lassen, das große Welt-Fußballfest daheim sei einem Bestechungs-Sumpfgebiet entstiegen, ein Betrug gewesen? Also Moder statt Märchen?

Mit Verlaub, welch ein Unsinn! Selbst wenn es Merkwürdigkeiten rund um die WM-Vergabe gegeben hat, darf das doch nichts Wesentliches von der Erinnerung an diese fußballerisch, organisatorisch und sogar klimatisch unvergesslichen vier Wochen im deutschen Sommer 2006 nehmen.

Noch eine deutsche Absonderlichkeit: Dass sich einer unser bislang weltweit geschätzten Autobauer durch Technik-Tricks und Ingenieurs-Hochmut blamiert hat, ist schlimm. Aber müssen wir Deutsche, die wir weiterhin die zu Hause und im Ausland gefragtesten Maschinen und Automobile konstruieren, uns nun kollektiv als betrügerische Umweltfrevler an den Pranger stellen (lassen)? Wie haben mich jene US-Kongressabgeordneten gewurmt, die einen VW-Manager neulich öffentlich behandelten, als sei er ein Schwerverbrecher; dieselben Leute übrigens, die es nicht schaffen (wollen) zu unterbinden, dass in ihrem Land schießwütige Kids so leicht an Waffen kommen wie an Hotdogs.

Deutsche Selbstüberhebung einerseits und Selbstgeißelung andererseits bleiben ein Ärgernis - irritierend übrigens auch für unsere Nachbarn.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort