Kolumne: Mit Verlaub! In Sachen Moral die Schnauze halten

Nach der Wiedervereinigung fühlten wir uns von Freunden umzingelt. Das ist vorbei. Berlins moralischer Imperialismus weckt in Europa das Unbehagen am deutschen Koloss.

Londons Bürgermeister Boris Johnson hat ein Buch über den Jahrhundert-Premier Winston Churchill vorgelegt. Es handelt davon, wie ein Einzelner der Geschichte Europas die richtige Wendung weg vom Abgrund zu geben vermag. Ich frage mich, was uns der weitsichtige Brite heute zu sagen hätte. Es liegt nahe, in die Schatztruhe mit Churchill-Weisheiten zu greifen: "Es ist sinnlos zu sagen: Wir tun unser Bestes. Es muss dir gelingen, das zu tun, was erforderlich ist. "Oder: "Der Preis der Größe heißt Verantwortung."

Nehmen wir Merkels Bob-der-Baumeister-Diktum "Wir schaffen das". Man muss das nicht gleich, wie es dem Philosophen Rüdiger Safranski einfiel, als Beleg für eine infantile Asylmoral abkanzeln; aber - siehe Churchill - daran zweifeln wird man dürfen, ob Merkel mit ihrer Hereinspaziert-Haltung vielleicht persönlich beste Absichten verfolgte, aber nicht das Erforderliche, rechtlich Gebotene getan hat. Safranski diagnostiziert eine Unreife der deutschen Politik, die zwischen ökonomischem Selbstbewusstsein und weltfremdem Humanitarismus schwanke. Deutschland, das träumerisch-aggressive Weltkind in der Mitte des Kontinents - die anderen Europäer kennen das, und es ist ihnen nicht wohl dabei. Hans-Dietrich Genschers Befund nach der Wiedervereinigung, Deutschland sei umzingelt von Freunden, stimmt nicht mehr. Der neudeutsche moralische Universalismus irritiert die Partner in der EU. Hier sind wir beim zweiten Churchill-Zitat: "Der Preis der Größe heißt Verantwortung." Es erscheint zweifelhaft, ob Berlin gewillt ist, den Nachbarn das Unbehagen zu nehmen. Wir Deutschen sollten nie vergessen, dass wir zu groß sind, um in Europa unterzutauchen, aber nicht groß genug, um nach dem Wilhelm-Tell-Motto "Der Starke ist am mächtigsten allein" zu agieren.

In schöner Klarheit hat das der Historiker Golo Mann formuliert: "Es gibt zu viel Deutsche in Europa, als dass ein aggressiver Staat aller Deutschen nicht über kurz oder lang die anderen lebenswilligen Nationen gegen sich vereinen müsste." Berlin wird heute als naiv-aggressiv wahrgenommen. Die Regierung in Polen spürt derzeit, was es heißt, von großmäuligen deutschen Zuchtmeistern (Martin Schulz, Günther Oettinger) die Knute gezeigt zu bekommen. Wie sagte es Peter Scholl-Latour kurz vor seinem Tod drastisch wie klug: "Wir Deutsche sollten in Sachen Moral einfach noch eine Zeit lang die Schnauze halten."

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(RP)
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