Politisch Inkorrekt In der Causa Wulff ging jedes Maß verloren

Ex-Bundespräsident Christian Wulff steht vor Gericht. Von den zahlreichen Vorwürfen, die zu seinem Sturz führten, ist wenig übriggeblieben. Und selbst das erscheint kaum überzeugend.

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. So macht sich die Volksseele bisweilen Luft, wenn es um die Aufarbeitung strafrechtlich relevanter Angelegenheiten geht. Und es gab Fälle, wo dieser Eindruck entstehen konnte, etwa wenn große Konzerne wegen Managementfehlern kollabieren und sich die Verursacher mit Millionenabfindungen aus dem Staub machen, während ihre einstigen Mitarbeiter Hartz IV-Anträge ausfüllen.

Der gestern eröffnete Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff zeigt jedoch, dass es in diesem Land längst keinen Promi-Bonus mehr, eher einen Promi-Malus gibt. Bevor wir zur Causa Wulff kommen, lassen Sie mich klarstellen, dass ich seine Zeit im Amt des Staatsoberhaupts als schwach empfunden habe. Außer seiner höchst umstrittenen Feststellung, "der Islam" gehöre zu Deutschland, wird politisch nichts in Erinnerung bleiben.

Aber das steht vor dem Landgericht Hannover nicht zur Verhandlung. Es geht um Vorteilsannahme im Amt als früherer niedersächsischer Ministerpräsident, keine Lappalie. Über viele Vorwürfe haben die Medien seinerzeit groß berichtet. Da war der Hauskredit eines befreundeten Unternehmers, da ging es um Urlaubsaufenthalte in Immobilien von Freunden, kurz sogar um die Garderobe der First Lady, dann in alberner Weise noch um das geschenkte Bobbycar für den Sohn der Wulffs.

Geblieben ist nach eineinhalb Jahren intensiver staatsanwaltlicher Ermittlungen ein Betrag von 753 Euro für Hotel-Übernachtung, Babysitter und Bewirtung auf dem Oktoberfest. Ist ein deutscher Ministerpräsident für 753 Euro zu kaufen? Oder sind Wulff und der Filmunternehmer Groenewold einfach gute Freunde, einmal zahlt der eine, einmal zahlt der andere? Ich bin gespannt, wie ein Richter das beurteilen will. 22 Prozesstage sind anberaumt, die frühere Ehefrau Wulffs soll aussagen, der Verleger Hubert Burda und seine Frau, die Schauspielerin Maria Furtwängler, sollen erzählen, wie es war im Zelt auf der Wies'n und so weiter. Und dann, am Schluss, gibt es entweder einen Freispruch oder eine vermutlich geringfügige Geldbuße. Wem ist mit diesem Prozess gedient? Dem Rechtsempfinden? Droht eine Wiederholung der Taten? Und wie steht es mit der Verhältnismäßigkeit?

Christian Wulff musste als Staatsoberhaupt zurücktreten. Auch wenn er weiter ein stattliches Salär bezieht, wird er kaum in Saus und Braus leben, denn er muss auch die Kosten zweier gescheiterter Ehen tragen. Gestern sprach er vor Gericht von einer "Staatsanwaltschaft, die jedes Maß verloren" habe.

Ich denke, er hat recht.

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(RP)
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