Kolumne: Total Digital Twitter wird zum Facebook-Klon

Düsseldorf · Sagt ein Norddeutscher zum anderen: "Du, ich bin jetzt bei Twitter. Da hast Du immer nur 140 Zeichen." Sagt der andere: "Was, 140 Zeichen? Willst Du die Leute zu quatschen?" Der alte Twitter-Witz ist jetzt hinfällig. Denn der Kurznachrichtendienst hat vor wenigen Tagen verkündet, eines seiner beiden Alleinstellungsmerkmale aufzugeben.

Schon seit geraumer Zeit kann die früher strikte Chronologie der Nachrichtenabfolge durchbrochen werden und Twitter erwägt, diese Regel weiter aufzuweichen. Und jetzt ist ein weiteres Dogma gefallen, welches hieß: Fasse Dich kurz. Ich bin gespannt, ob Twitter mit diesem Schritt seinen Status als schnellste Nachrichtenschleuder im Netz behaupten kann.

Ich habe die Beschränkung auf 140 Zeichen in meinen mehr als sieben Jahren bei Twitter immer als Bereicherung empfunden und behaupte: Twitter hat meinen Schreibstil als Autorin verbessert. Denn auch ich habe sonst kaum noch Anlässe, mich kurz zu fassen und an prägnanten Formulierungen zu feilen. Im Netz können wir alle in der Regel so viel schreiben wie wir wollen - was aber auch zum Schwafeln verführen kann. Ein genialer Tweet hingegen ist wie eine gelungene Überschrift in der Zeitung: beides macht Lust auf mehr.

Als börsennotierter Konzern ist Twitter natürlich gezwungen, für viel mehr Nutzer attraktiv zu sein als nur für uns professionelle Kommunikatoren. Das gilt besonders für den deutschen Markt, auf dem sich Twitter seit jeher schwer tut. Gut 300 Millionen monatlich aktive Nutzer hat Twitter weltweit, davon aber nur zwei bis drei Millionen in Deutschland. Das sind weitaus weniger Nutzer als etwa in den Niederlanden, in Großbritannien oder in Italien.

Doch in allen Ländern steht Twitter vor dem gleichen Problem: Die meisten neuen Nutzer melden sich bei der Plattform an und kommen nie wieder, weil sie Twitter zu kompliziert finden. Oder sie folgen einigen wenigen anderen Nutzern und lesen ab und zu deren Tweets, schreiben aber selbst nie etwas.

Nun will Twitter wie Facebook werden, das mit seinen weltweit anderthalb Milliarden Nutzern viel größer und finanziell viel erfolgreicher ist. Die meisten Veteranen wie mich verprellt Twitter mit dieser Strategie. Ich befürchte, dass die Kehrtwende des einst einzigartigen Dienstes ein Schuss in den Ofen wird. Denn Facebook gibt es schon. Einen Facebook-Klon braucht eigentlich niemand.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de.

(RP)
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