Kopftuchverbot für Mädchen Es ist komplizierter, als Kritiker glauben möchten

Düsseldorf · Die Landesregierung will Mädchen unter 14 verbieten, ein Kopftuch zu tragen. Belastbare Zahlen, wie häufig das Phänomen ist, gibt es nicht. Klar ist aber: Mit dem Kopftuch ist es viel komplizierter, als viele Kritiker glauben möchten.

 Eine Kopftuchpflicht für Kinder lehnen Theologen fast unisono ab.

Eine Kopftuchpflicht für Kinder lehnen Theologen fast unisono ab.

Foto: dpa

Mit oder ohne? Das ist hier die Frage. Es geht mal wieder um den Islam, genauer gesagt: um das Kopftuch. Anlass ist der Vorstoß der nordrhein-westfälischen Landesregierung, Mädchen unter 14 Jahren das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten. Das Kopftuch ist mehr als ein Kleidungsstück, mehr als ein religiöses Symbol. Es ist Objekt eines Kulturkampfs, Konfliktstoff im Wortsinn. Woher es aber kommt, wer es trägt und warum - das ist vielen unklar.

Die Geschichte Im Wüstenklima des Nahen Ostens sind Kopftücher (für Frauen und Männer) seit jeher praktischer Teil der Kleidung. Religiöse Verschleierung kennt nicht nur der Islam: Paulus fordert im ersten Korintherbrief, Frauen sollten beim Gebet ihr Haupt verhüllen. Religiöse Jüdinnen bedecken noch heute ihr Haar mit Mützen oder Perücken.

Der Koran und die Überlieferungen der Taten Mohammeds sprechen den Schleier an. "O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen", heißt es etwa in Koransure 33. Ob das den Kopf betrifft oder eher die Brust - darüber streiten die Gelehrten, wobei gewichtige konservative Auslegungen zur Kopftuchpflicht tendieren. So oder so: "Zu Zeiten des Propheten wurde eine Frau durch das Kopftuch oder weite Umhänge als ehrbare Muslimin erkennbar", resümiert die Göttinger Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus: "Zuzuordnen zu sein, bedeutete auch mehr Schutz." Das Kopftuch war in einer weithin barbarischen Welt ein sozialer Fortschritt.

Die Zahlen In der islamischen Welt erlebt das Kopftuch ein Comeback, wie die Religiosität insgesamt. Für Deutschland fehlt eine aktuelle repräsentative Studie, wie viele Musliminnen Kopftuch tragen. Eine Erhebung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) datiert bereits von 2008. Damals gaben 72 Prozent von 3700 Musliminnen an, sie trügen nie Kopftuch. Es gibt keine statistischen Hinweise, dass sich das grundlegend geändert hat.

Von den Mädchen bis zehn Jahren trugen damals 2,5 Prozent ein Kopftuch, von den Elf- bis 15-Jährigen 6,9 Prozent. Auch hier gibt es keine belastbaren neueren Zahlen, nur Einzelbeobachtungen, polemisch gesagt: gefühlte Wahrheit. So stellt NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU) fest, das Phänomen werde "immer sichtbarer". Gesamtschulleiter sehen ebenfalls eine Zunahme, aber "kein relevantes Phänomen". Die Schulleiterin einer Dortmunder Grundschule (280 von 345 Kindern sind Muslime) gibt an, sechs Mädchen trügen Kopftuch - das wären gut drei Prozent. Rechnet man die Prozentsätze von 2008 auf die Schülerzahlen in NRW hoch, erlaubt das die grobe Schätzung, dass 5000 Erst- bis Neuntklässlerinnen im Land Kopftuch tragen.

Die Bedeutung Die Gretchenfrage: Warum Kopftuch? Für die Bundesrepublik gibt es dazu neben der Bamf-Studie eine Erhebung der Adenauer-Stiftung von 2006 und eine Dissertation der Linguistin, Moderatorin und Rapperin Reyhan Sahin von 2012. Sie alle stimmen in einem überein: Frauen tragen Kopftuch aus religiösen Gründen - auch wenn der Koran es nicht eindeutig vorschreiben mag, wird er so verstanden. Nur eine kleine Minderheit (in der Bamf-Studie sechs Prozent) erklärt, das Kopftuch auf Druck der Familie zu tragen. Das könne daran liegen, gibt Spielhaus zu bedenken, "dass niemand gern Opfer und Objekt sein will" - zugleich wird es damit aber sehr unwahrscheinlich, dass ein Großteil der Frauen ihr Kopftuch gezwungenermaßen trägt.

Alles Weitere ist, vorsichtig gesagt, kompliziert. In der Bamf-Studie war der zweithäufigste Grund: "Vermittelt mir Sicherheit". Sahin führt an, manche Frauen wollten sich vor männlichen Blicken und die Männer vor ihren weiblichen Reizen schützen. Andere wollten sich als sexuell treu bezeichnen, als anständig: Das sei ein Vorteil auf dem "Heiratsmarkt" der Muslime.

Und schließlich, für manchen Islamkritiker schier unglaublich, sei das Kopftuch "Emanzipationszeichen": für bewusste Religiosität, anders als bei den Eltern. Und als Statement gegen Diskriminierung in Deutschland (etwa auf dem Arbeitsmarkt) - mit der paradoxen Folge, dadurch eventuell erneut Nachteile zu erleiden. Und oft wird das Kopftuch mit modischer Kleidung kombiniert. Spielhaus: "Das Tuch gehört zu einem Lifestyle, der in Blogs, Musikvideos und künstlerischen Fotos inszeniert und gefeiert wird." Eine bestimmte politische Gesinnung seiner Trägerin ist aus dem Kopftuch also kaum ablesbar.

Die Kinder Im Islam sollen Kinder vorsichtig an die Gebräuche herangeführt werden, etwa ans Fasten. Für Eltern, die das Kopftuch für Pflicht halten, würde Ähnliches gelten; eine Kopftuchpflicht für Kinder lehnen Theologen aber fast unisono ab. Juristisch wird es spätestens hier trotzdem schwierig: Beim Kopftuchverbot geht es nicht nur um das Grundrecht des Kindes auf Unversehrtheit, sondern auch um das Grundrecht der Religionsfreiheit (das Eltern für ihre Kinder ausüben, solange die unter 14 sind) und das Recht der Eltern auf Erziehung. Unter Experten ist ein Verbot heftig umstritten. Spielhaus lehnt es ebenso ab wie ihr Osnabrücker Kollege Bülent Uçar, der liberale Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide befürwortet es, die liberale Seyran Ates hält es für nötig. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam 2017 zu dem Schluss, ein komplettes Verbot des Kopftuchs (anders als der vollen Gesichtsverschleierung) sei unzulässig. Ähnlich entschied das Verfassungsgericht 2015 in Bezug auf Lehrer.

Fazit Ein Kopftuchverbot wäre eine politische Entscheidung. Ein Kopftuch zu tragen, ist, soweit wir wissen, dagegen eher selten eine politische Entscheidung, sondern eine religiöse. Kein Kopftuch zu tragen, bedeutet umgekehrt aber nicht, nicht religiös zu sein. Ein Kopftuchverbot, das Verbot eines Symbols, wäre selbst ein Symbol. Nicht weniger, nicht mehr. Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber diese Komplexität sollten wir uns schon leisten.

(fvo)
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