Forscher im Interview Sind Ausländer krimineller?

Bochum · In Zeiten der Zuwanderung ist immer wieder zu hören, dass Migranten krimineller seien. Doch stimmt das auch? Thomas Feltes, Kriminologe an der Uni Bochum, warnt vor schnellen Schlüssen und erklärt, wie wir seiner Meinung nach mit Flüchtlingen umgehen sollten.

 Thomas Feltes: "Wenn junge Menschen hier sind, ihre Familie aber in Syrien, ist das eine schlechte Ausgangsposition."

Thomas Feltes: "Wenn junge Menschen hier sind, ihre Familie aber in Syrien, ist das eine schlechte Ausgangsposition."

Foto: dpa

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2015 ist die Sache einfach. Der Anteil ausländischer Tatverdächtiger hat sich im Vergleich zum Vorjahr von 24,3 Prozent auf 27,6 Prozent erhöht. Der Anteil an in Deutschland gemeldeten Ausländern liegt aber nur bei rund 10 Prozent. Also sind Ausländer krimineller?

Thomas Feltes Der Anstieg ist einfach dadurch zu erklären, dass in den vergangenen Jahren mehr Ausländer nach Deutschland gekommen sind. Also ist es nur logisch, dass ihr Anteil an der Kriminalität zunimmt. Unter den Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, haben wir zudem einen hohen Anteil junger Männer. Und das ist die Gruppe, die am meisten durch Kriminalität auffällt. Das hat nichts mit Ethnie zu tun, sondern mit Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft.

Woran liegt es noch, dass Ausländer überproportional in der Kriminalstatistik vertreten sind?

Feltes Das Problem beginnt schon damit, dass wir gar nicht wissen, zu welcher Gesamtzahl wir die ausländischen Tatverdächtigen ins Verhältnis setzen können. Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Ausländer sich in Deutschland aufhalten, weil Touristen, Arbeitspendler und Illegale nicht erfasst werden. Solange ich keine genaue Gesamtzahl habe, ist es unseriös, die Kriminalitätsrate von Ausländern in Deutschland zu berechnen. In der Polizeilichen Kriminalstatistik gibt es deshalb auch den Hinweis, dass die Zahlen zur Ausländerkriminalität mit großer Vorsicht zu interpretieren sind.

Kann ich die Kriminalität von Deutschen und Ausländern überhaupt vergleichen?

Feltes Wenn ich einen Vergleich anstellen will, müsste ich eine bestimmte Altersgruppe, eine bestimmte Geschlechtsgruppe und eine Gruppe mit einem bestimmten Hintergrund vergleichen. Das sind die Faktoren, die Kriminalität in der Entstehung beeinflussen. Männer werden eher kriminell als Frauen, junge Menschen eher als ältere. Wir wissen, dass soziale Benachteiligung der wesentliche Faktor ist, dass jemand straffällig wird, und wir wissen, dass es ein Gefälle zwischen Großstädten und dem Land gibt. Nur wenn ich diese Faktoren berücksichtige, kann ich einen Vergleich zwischen Ethnien und Nationalitäten herstellen. Im Ergebnis zeigt sich dann, dass die ethnische Herkunft Kriminalität nicht beeinflusst. Kriminalität ist, wie wir schon lange wissen, keine Frage des Passes, sondern eine Frage von Lebenslagen. Da hilft es wenig, einen Begriff wie "Nafri" zu prägen.

Sondern?

Feltes Es geht bei den sogenannten nordafrikanischen Intensivtätern um eine Gruppe, die aus bestimmten sozialen Strukturen kommend ihr Land verlassen hat, weil diese jungen Menschen dort keine Perspektive für sich sahen. Und hier bei uns haben sie keine Chance, sich zu integrieren. Sie können aber auch nicht in ihr Land zurückzukehren, weil sie dann als Versager angesehen würden. Solche Differenzierungen passen aber nicht in die öffentliche Diskussion, wo man einfache Antworten will und auch geliefert bekommt, weil auch die Medien glauben, dass die Bevölkerung genau dies hören will.

Die Leute würden also gerne hören: Nordafrikaner sind überproportional kriminell, weil die eben so sind. Und nicht: Weil sie im Gegensatz zu Syrern kaum Chancen auf Asyl haben und deshalb untertauchen und kriminell werden?

Feltes Wir alle haben eine angeborene Angst vor den Fremden und vor dem Fremden. Das ist uns seit der Steinzeit eingebaut als Schutzmechanismus, damit wir uns so in nicht-vertrauter Umgebung anders verhalten. Dieser Schutzmechanismus reagiert momentan über, weil die Belastungen und Ängste überhand nehmen.

Warum?

Feltes Die Menschen hat eine allgemeine Verunsicherung ergriffen, die aber primär nichts mit den Flüchtlingen zu tun hat, sondern damit, dass Politik nicht den Eindruck erweckt, Probleme lösen zu können. Da geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um Gesundheitsvorsorge, Finanzen, die Europäische Union, die Globalisierung. Das sind Probleme, die die Menschen wahrnehmen und bei denen sie das Gefühl haben, dass die Politik das nicht geregelt bekommt. Die Menschen sehnen sich nach den guten alten Zeiten zurück, obwohl diese gar nicht so gut waren. Die Politik regiert hilflos, will Stärke zeigen und kommt mit immer neuen Gesetzen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Obwohl die Bürger auch ahnen, dass die Fußfessel keinen Terroristen davon abhält, einen Anschlag zu verüben.

Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter hat gesagt: "Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist ziemlich nutzlos. Sie bildet ab, wo die Polizei sich wie stark engagiert, aber sie sagt für viele Bereiche fast nichts über die Kriminalitätsentwicklung aus." Taugt die Kriminalstatistik überhaupt für irgendwas?

Feltes Das hat Herr Fiedler schön und richtig formuliert. Das Problem ist, dass wir in Deutschlands nicht Besseres als die Polizeiliche Kriminalstatistik haben. Natürlich wollen die Bürger und die Politiker wissen, wie sich Kriminalität entwickelt, und in Grenzen kann man auch Entwicklungen mit Hilfe der Kriminalstatistik nachvollziehen. Wenn wir uns zum Beispiel die Jugend- und Gewaltkriminalität ansehen — beides ist in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen, worauf auch der BKA-Präsident hingewiesen hat. Aber solche Aussagen werden im Moment nicht wahrgenommen. Kriminologen fordern seit Jahrzehnten einen regelmäßigen Sicherheitsbericht, wie wir ihn zweimal gehabt haben in Deutschland. Dort werden auch Dunkelfeld-Studien einbezogen...

… also die Kriminalität, die nicht angezeigt wird...

Feltes … ja, und wo wo auch die Problematik berücksichtigt wird, dass wir in der Kriminalstatistik nur Tatverdächtige, keine Verurteilten aufführen. 70 Prozent der Verdächtigen werden nicht verurteilt. Wir erfassen auch nur einen Bruchteil der tatsächlich begangenen Straftaten in der Kriminalstatistik. Das Dunkelfeld ist zwei-, bis dreimal so groß — selbst bei schweren Straftaten wie Raub und Körperverletzung. Ein jährlicher Bericht wäre gut, aber die Politik hat sich entschieden, den nicht zu wollen.

Warum will die Politik keine andere Statistik?

Feltes Da müssen Sie die Politik fragen. Es wird gesagt, es fehle an Geld. Aber ich glaube, daran liegt es nicht. Es liegt wohl vor allem daran, dass diese Berichte die Grenzen der Kriminalstatistik aufzeigen würden. Das wollen die Innenminister nicht.

Der Migrationshintergrund spielt in der Polizeistatistik keine Rolle. Von rechts kommt deshalb immer wieder der Vorwurf, das sei eine bewusste Entscheidung, um die Wahrheit vor der Bevölkerung geheimzuhalten.

Feltes Das ist ein kleines Stück übriggebliebene Redlichkeit, die dafür sorgt, dass die Zahlen nicht missbraucht werden. Der Migrationshintergrund ist schon methodisch schwierig festzustellen. Wie definieren Sie "Migrationshintergrund"? Wenn die Eltern nicht in Deutschland geboren worden sind? Wenn die Person selbst im Ausland geboren wurde? Wenn Migranten, wie es häufig der Fall ist, unter schlechteren sozialen Bedingungen leben und aufwachsen müssen, dann kann dies zu einer höheren Kriminalitätsbelastung führen, muss es aber nicht. Denn wir wissen aufgrund von Dunkelfeldstudien, dass die selbstberichtete Kriminalität bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht höher ist.

Ist es überhaupt sinnvoll zu fragen, ob Ausländer krimineller sind als Deutsche?

Feltes Fragen ist immer sinnvoll. Nur muss man dann auch akzeptieren, dass die Antworten manchmal komplexer sind und nicht so einfach, wie wir uns dies wünschen. Und wenn man die entsprechenden Zahlen nicht in der Kriminalstatistik ausweisen würde, dann müsste man sich, durchaus berechtigt, den Vorwurf gefallen lassen, etwas zu verschweigen. Wir müssen uns mit dem Thema beschäftigen, aber unabhängig von medialer und politischer Hysterie.

Und zwar wie?

Feltes Der Polizei in Düsseldorf waren die "Probleme" mit Nordafrikanern schon lange bekannt. Man hat sich sich aber nicht getraut, der Politik klar zu sagen, dass es sich hier um ein soziales Problem handelt, das man mit polizeilichen Mitteln nicht lösen kann. Wir alle müssten uns mit geeigneten Mitteln darum kümmern, dass die Menschen aus Nordafrika, die hier gestrandet sind, entweder eine Perspektive in Deutschland bekommen oder man muss Lösungen finden, wie sie wieder in ihre Länder zurückgehen können, ohne dort ihr Gesicht zu verlieren. Zum Beispiel, indem man ihnen eine befristete Arbeitserlaubnis gibt, damit sie Geld verdienen und danach zurückkehren können. Die meisten der jungen Menschen, wenn nicht sogar alle, kommen nicht hierher, um Straftaten zu begehen. Die wollen Geld für ihre Familien verdienen. Straftaten werden dann begangen, wenn man keine andere oder bessere Wahl hat.

Die öffentliche Meinung ist aber eher: Wenn sie hier kein Asyl bekommen, dann müssen sie sofort wieder zurück in ihre Heimat.

Feltes Dafür kann man Verständnis haben, aber man muss einen Schritt weiter denken: Wenn wir diese Menschen nicht innerhalb kurzer Zeit abschieben können, warum auch immer, dann müssen wir uns damit beschäftigen, was sie in dieser Zeit bei uns machen können und sollen. Natürlich kann und muss man versuchen, sie wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, aber so lange sie hier sind, muss man dafür sorgen, dass sie nicht straffällig werden, zum Beispiel durch Projekte und sozialarbeiterische Betreuung.

Gibt es Kriminalität, die von bestimmten Ausländergruppen eher begangen wird?

Feltes Bei den Nordafrikanern geht es hier überwiegend um Kleinkriminalität wie Taschendiebstahl, Diebstahl in Geschäften, Drogenhandel - da, wo man mit wenig Aufwand Geld verdienen kann. Es ist keine Gewaltkriminalität, da gibt es andere Gruppen wie beispielsweise Libanesen in Berlin.

Woher kommen eigentlich diese libanesischen Clans? Von deutschen Clans höre ich eher selten.

Feltes Wie kam es, dass sich in den USA die italienische Mafia entwickeln konnte? Irgendwann gab es in Berlin familiäre Strukturen, die durch Straftaten ihr Geld verdient haben und die sich weiterhin rekrutieren und damit erfolgreich sind. Gegen diese Struktur hat es die Polizei schwer. Aber auch das ist kein ethnisches Problem. Es gibt genug Libanesen weltweit, die keine Straftaten begehen. Es ist das Problem dieser konkreten Familien. Und ob es wirklich keine deutschen Clans gibt, wissen wir nicht. In der Wirtschaftskriminalität gibt es durchaus familienähnliche Strukturen, die nur nicht so diskutiert werden. Aber da reden wir nicht von Straßenkriminalität, Erpressung und Raub, sondern von Steuerhinterziehung und Betrug in großem Stil.

Kürzlich hat ein 39-Jähriger seine eigene Familie mit der Axt attackiert. Für Schlagzeilen hat das nicht gesorgt. Als 2016 bei Würzburg der Flüchtling mit der Axt auf Zugpassagiere losgegangen ist, aber schon. Haben wir ein Wahrnehmungsproblem?

Feltes Meine — zugegeben gewagte — These ist, dass 90 Prozent aller Terrorattentate von Leuten begangen werden, die psychisch gestört sind. Da liegt die eigentliche Ursache und nicht in angeblich fanatischen Ideologien oder gar Religionen. Menschen, die solche Taten begehen, sehen aufgrund von persönlichen und sozialen Entwicklungen für sich keine andere Lösung mehr, als mit einem großen Abgang aus dem Leben zu scheiden oder mit einer meist aufgesetzten Ideologie ihrem Leben noch mal einen Sinn zu geben. Diese Probleme haben Deutsche auch. Aber man muss sich immer den Fall und den Täter genau ansehen. Es führt beispielsweise nicht zum Ziel zu ermitteln, in welchen Moscheen der Täter zuletzt war. Es waren tausende von Menschen in diesen Moscheen, aber keiner ist auf die Idee gekommen, so eine Tat zu begehen. Also kann es nur an der konkreten Person liegen.

Trotzdem ließe sich nun sagen: Wenn Ausländer aufgrund ihrer sozialen Lage, ihres Alters und ihres Geschlechts in Deutschland anfälliger sind für Kriminalität, dann sollten wir dafür sorgen, dass deutlich weniger von ihnen ins Land kommen.

Feltes Diese Schlussfolgerung kann man ziehen. Das wäre eine politische Entscheidung, die man treffen kann, mit der man sich aber gegen Menschenrechte und gegen die Werte unseres christlichen Abendlandes stellt, auf die wir bisher so stolz waren. Wir müssen endlich realisieren, wie und warum sich Afrika so entwickelt hat. Warum die Lebensmittel- und Wasserprobleme dort weiter zunehmen werden. Aktuell leben 37 Prozent aller Afrikaner in extremer Armut. Das ist ebenso bekannt wie die Ursachen dafür, aber es ist zu komplex, um damit auf die Menschen zuzugehen. Auf der anderen Seite: Wenn wir Menschen in unser Land lassen, dann brauchen sie eine Perspektive. Und bei den vielen jungen Männern muss die Familienzusammenführung klappen, denn gerade für Menschen aus diesem Kulturkreis spielt die Familie eine wichtige Rolle. Wenn junge Menschen hier sind, ihre Familie aber in Syrien, ist das eine schlechte Ausgangsposition.

Was würden Sie sich von der Debatte über Ausländerkriminalität wünschen?

Feltes Ich bin da leider relativ pessimistisch und wünsche mir deshalb einfach nur, dass wir etwas gelassener auf die Anforderungen, denen wir gegenwärtig gegenüber stehen, reagieren. Angesichts der Wahlen, die in diesem Jahr anstehen, wird jede Diskussion über Ausländerkriminalität zu starken Vereinfachungen führen und damit zu einem politischen Schlagabtausch. Dann zählt nicht mehr die Qualität des Arguments, sondern die Einfachheit der Lösung. Ich würde mir wünschen, dass Polizei und Sozialarbeiter lauter nach Lösungen aus dem sozialen Bereich rufen und nicht nur die Abschiebelinie gefahren wird. Vielleicht können wir einen Kompromiss finden, der unserer humanistischen Tradition angemessen ist.

Mit Komplexität gewinnt man keine Wahlen.

Feltes Das ist leider richtig, denn selbst die Grünen sind auf breiter Linie eingeknickt. Eigentlich müssten wir die Notbremse ziehen und zurück auf Null gehen, in Ruhe überlegen, welche Probleme wir in unserer Gesellschaft haben. Uns fallen heute die Fehler vor die Füße, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. Der Westen hat nach dem Ende des Kalten Krieges geglaubt, dass alle Probleme gelöst seien. In Wirklichkeit haben die Probleme da erst begonnen.

(seda)
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