Serie "60 Jahre Bundesrepublik" Krisenmanager Helmut Schmidt

Düsseldorf (RP). Der Nachfolger Willy Brandts muss die alten sozial-liberalen Träume vom wirtschaftlichen Überfluss begraben. Ölpreisschock, Wirtschaftskrise und Terror setzen der Republik zu. Helmut Schmidt aber glänzt im Bundeskanzleramt als besonnener Steuermann und als Mensch, der nicht seinen Neigungen, sondern seinen Pflichten gehorcht.

Stationen eines Lebens
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Nicht der Traum von einer besseren Welt, sondern die Notwendigkeit, hier und jetzt zurechtzukommen, prägte die Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Wegen des Nahostkriegs vom Oktober 1973 hatten viele arabische Staaten ihre Öl-Ausfuhr gedrosselt, später die Preise kräftig erhöht. Die arabische Welt hatte den Ölpreis als Waffe entdeckt — und als Mittel, sich auf eine Zukunft ohne Öl vorzubereiten.

Es folgte eine wirtschaftliche Rezession in den USA und Europa. In der Bundesrepublik wurde an vier Sonntagen der Autoverkehr stillgelegt, damit Benzin gespart werden konnte. Wichtiger: Die sozial-liberale Koalition musste ihren Traum vom wirtschaftlichen Überfluss begraben, der mehr Gerechtigkeit, mehr Chancengleichheit möglich machen sollte. Statt dessen wurde die Frage, wie die bundesdeutsche Wirtschaft ihren Energiebedarf deckt, zu einem der bis heute wichtigsten Leitthemen.

Der Kanzler, der am 16. Mai 1974 — einen Tag, nachdem der bisherige Außenminister Walter Scheel zum Bundespräsidenten gewählt worden war — sein Amt antrat, war gut vorbereitet. Der Diplom-Volkswirt Helmut Schmidt hatte sich als Innensenator bei der Eindämmung der Flutkatastrophe in Hamburg 1962 bewährt. Als Abgeordneter war er viel ins Ausland gereist. Als Vorsitzender der SPD-Fraktion war er einer der Organisatoren der Großen Koalition, dann unter Brandt Verteidigungs- und Finanz-, einige Monate auch Wirtschaftsminister. Er war scharfzüngig ("Schmidt Schnauze"), aber in der Lage, komplizierte Zusammenhänge knapp zusammenzufassen.

In Brandts Kabinetten war sein Ehrgeiz aufgefallen, er hatte wohl auch seinen Teil dazu beigetragen, die SPD-Finanzminister Alex Möller und Karl Schiller in die Resignation zu treiben. Im Kanzleramt aber fiel der hektische Ehrgeiz von ihm ab. Er präsentierte sich acht Jahre lang als souveräner Steuermann in schwerem Wasser und als Mensch, der nicht seinen Neigungen, sondern seinen Pflichten gehorcht.

Besonders in den schwersten Stunden seiner Kanzlerschaft im Herbst 1977 wurde das deutlich. Als palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" entführten, um RAF-Terroristen freizupressen, als der von ihm geschätzte Präsident der Arbeitgeber Hanns Martin Schleyer entführt und ermordet wurde, nahm Schmidt nach seinem eigenen Urteil Schuld auf sich, um dem Gemeinwohl zu dienen.

Das lag im Mai 1974 noch in dunkler Zukunft. Schmidt trat außenpolitisch in die Fußstapfen Brandts, legte aber den Schwerpunkt auf die Innen- und Wirtschaftspolitik. Stabilität und Vollbeschäftigung nannte er in seiner ersten Regierungserklärung als wichtigste Aufgaben.

Sie blieben es. Denn die Ölkrise schlug unmittelbar auf die Arbeitsplätze durch. Bis 1973 hatte es seit 1969 höchstens 300 000 Arbeitslose gegeben. 1974 wurden es mehr als 600 000, ein Jahr später fast 1,1 Millionen. Schmidt stoppte die in den ersten sozial-liberalen Jahren geplante massive Ausweitung staatlichen Handelns. Doch der öffentliche Dienst in Bund, Ländern und Gemeinden wurde weiter ausgebaut. So wurde der Anstieg der Arbeitslosigkeit verlangsamt, doch die Staatsschulden wuchsen. Schmidt: "Ich war im Verlauf der siebziger Jahre froh, die deutschen Inflationsraten und ebenso den Stand der Arbeitslosigkeit wenigstens unterhalb der Quoten der anderen größeren westeuropäischen Staaten halten zu können."

Schmidt, der noch 1972 einen bis 1985 reichenden, allein an der bundesdeutschen Wirtschaft ausgerichteten "Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens" vorgelegt hatte, begriff: Weltwirtschaftliche Faktoren, nämlich Ölpreisschock und Abwertung des Dollars durch die US-Regierung, waren mächtiger als deutsche Planspiele.

Im französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing fand er einen Partner, der für sein Land die gleiche Einsicht gewonnen hatte. Im Sommer 1975 schlugen sie gemeinsam vor, die Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrieländer sollten sich einmal pro Jahr treffen und den wirtschaftspolitischen Kurs abstimmen. G7 war erfunden.

Giscard und Schmidt begriffen auch, dass die Aufgabe fester Wechselkurse des Dollar durch Washington neue Gefahren für Franc und Deutsche Mark hervorbringen könnte. Sie fürchteten eine Instabilität der Finanzmärkte durch die Aktivität von Spekulanten, die Schmidt "die Gnome von Zürich" nannte. So gingen der Franzose und der Deutsche daran, die Grundzüge eines "Europäischen Währungssystems" zu erarbeiten. Es war der erste Schritt zur Europäischen Währungsunion — und der inzwischen 90-jährige Ex-Kanzler ist heute noch stolz darauf .

Weniger zukunftsträchtig war der Versuch der Regierung Schmidt, den Energiebedarf Deutschlands langfristig zu sichern. Seit den 50er Jahren galt der Ausbau der Atomenergie als dritter Weg neben dem Kraftwerksbetrieb mit Stein- und Braunkohle. Unter dem Eindruck der ersten Ölkrise bestätigte auch die SPD noch einmal diesen Kurs. 1968 war im damals schon SPD-regierten Nordrhein-Westfalen in Würgassen das erste rein kommerziell genutzte Kernkraftwerk ans Netz gegangen. 1974 folgte das hessische Biblis. In Norddeutschland wurden in Schmidts Regierungszeit mehrere Kernkraftwerke geplant und gebaut, die erst unter Kanzler Kohl Strom lieferten. Doch schon 1972 hatte sich im badischen Wyhl Protest gegen ein geplantes AKW geregt. Dieser zunächst von Fischern und Winzern getragene Protest gewann nur langsam bundesweite Aufmerksamkeit. Doch als sich 1979 in den USA ein schwerer Unfall im Kraftwerk Three Mile Island ereignete, entwickelte sich in Westdeutschland eine rasch wachsende Protestkultur mit großen Demonstrationen. Sie führte dazu, dass Atomfabriken mit neuen Techniken nur im Versuchsbetrieb, wie der Thorium-Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, oder trotz Milliarden-Investitionen überhaupt nicht liefen, wie der Schnelle Brüter in Kalkar.

Protest gab es auch gegen eine andere Initiative Schmidts. Mit Besorgnis hatte der Regierungschef, der durchaus die Verständigung mit den Staaten im Moskauer Machtbereich suchte, die Stationierung von sowjetischen atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Osteuropa zur Kenntnis genommen. Der ehemalige Verteidigungsminister Schmidt fürchtete, die Sowjetunion könne mit diesen Raketen Westeuropa politisch erpressen. Denn auf westlicher Seite gab es keine derartigen Raketen, es gab nur das Versprechen der USA, im Fall eines Angriffs von Osten mit Interkontinental-Raketen zurückzuschießen.

Doch würden die USA das tun? War die Abschreckung glaubwürdig? Schmidt zweifelte. Er entwickelte das Konzept der "Nachrüstung": Auch in Westeuropa sollten Mittelstreckenaketen aufgestellt, dann mit Moskau über eine gleichmäßige Abrüstung verhandelt werden. Mit Unterstützung von Frankreichs Präsident Giscard und Großbritanniens Premier James Callaghan wurde dieser "Doppelbeschluss" (erst Auf-, dann Abrüstung) offizielle Nato-Strategie.

Die innenpolitischen Folgen waren schwerwiegend. Das kühle Kalkül, das unter Schmidts Nachfolger Kohl aufging, wurde in weiten Kreisen der westdeutschen Gesellschaft nicht verstanden. Intellektuelle, Schriftsteller, Kirchenleute fürchteten neue Kriegsvorbereitungen und nannten sich deshalb "Friedensbewegung". Sie blockierten deutsche Nato-Einrichtungen und predigten Widerstand.

Vielerorts verbanden sich der Anti-Atom-Protest und die Friedensbewegung. Sie wirkten bis weit in die SPD hinein, deren linker Flügel unter dem nach wie vor als Parteichef fungierenden Willy Brandt erstarkte. Die utopischen Hoffnungen der frühen sozialliberalen Jahre und der aktuelle Protest gegen Schmidts vom Verstand, nicht vom Gefühl geleitete Politik wurden zum Quell einer neuen politischen Kraft.

Schmidt sah darüber hinweg. Auch wenn der Rückhalt in der eigenen Partei schwächer wurde, seine Bundestagsfraktion stützte ihn — wie auch die Wähler. Der Kanzler war weit über die Grenzen seiner Partei hinaus geschätzt. Dazu trug seine Fähigkeit bei, seine Politik im Fernsehen allgemein verständlich zu erläutern. Nach 1976 (gegen Helmut Kohl) gewann er auch 1980 (gegen Franz Josef Strauß) die Bundestagswahl.

Da hatte die arabische Welt schon zum nächsten Schlag ausgeholt. 1979 waren die Ölpreise noch einmal drastisch erhöht worden. Die Arbeitslosenzahl stieg von rund 890 000 (1980) auf 1,8 Millionen (1982). Der innenpolitische Druck wurde größer, die FDP suchte einen neuen Partner. In Helmut Kohls CDU sollte sie ihn finden.

(RP)
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