Martin Schulz Ein Mann läuft sich warm

Duisburg/Eschweiler · EU-Parlamentspräsident Schulz könnte SPD-Kanzlerkandidat werden, falls Sigmar Gabriel nicht antritt - und tourt schon mal durch NRW.

 Martin Schulz bei einem Auftritt in Duisburg.

Martin Schulz bei einem Auftritt in Duisburg.

Foto: dpa, rwe jhe

Es gibt diesen Moment in der Kindheit, da wird Dietmar Schultheis klar, dass sein Freund Martin kein ganz gewöhnlicher Junge ist. Gerade haben die beiden zu Mittag gegessen, wie sie das immer abwechselnd mal bei dem einen, dann bei dem anderen tun. Dietmar zieht sich die Fußballschuhe an und will endlich raus auf den Bolzplatz in Eschweiler. Er ruft Martin, aber der kommt nicht. Also schaut Dietmar, wo der Freund denn bleibt. Und findet ihn völlig in sich versunken vor einem Spiegel stehend. Martin habe Gesten ausprobiert und gesagt, er müsse doch schauen, wie das aussehe. "Und das als Junge von acht Jahren", wundert sich Dietmar noch heute.

Wenn Martin Schulz heute gestikuliert und redet, hören ihm mehr als 700 Abgeordnete aus 28 verschiedenen Ländern zu. Der SPD-Politiker ist Präsident des Europäischen Parlaments, des größten demokratischen Abgeordnetenhauses der Welt. An diesem Freitag aber ist Schulz in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen auf Tour: Er spricht auf einer SPD-Konferenz zur Zukunft des Ruhrgebiets in Duisburg, er besucht den Stahlkonzern Thyssenkrupp und er findet sich am Abend bei jenem SPD-Ortsverein in Eschweiler ein, wo manch einer ihn schon seit über 50 Jahren kennt.

Eigentlich hat Schulz seit dem Brexit-Referendum mehr als genug damit zu tun, die Fliehkräfte in Europa unter Kontrolle zu bringen. Seit der Abstimmung habe er quasi durchgearbeitet, heißt es in seinem Umfeld. Doch der 60-Jährige ist eben auch SPD-Politiker und noch dazu einer, der als möglicher Kanzlerkandidat gilt, falls SPD-Parteichef Sigmar Gabriel nicht antreten sollte. Schulz würde seinem Freund Gabriel den Posten zwar wohl kaum aktiv streitig machen.

Doch angesichts der niedrigen Umfragewerte für die SPD und je nachdem, wie die Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern für die Partei ausgehen, könnte die Kritik an Gabriel weiter zunehmen. Hinzu kommt: Schulz' Amtszeit in Brüssel läuft voraussichtlich Anfang kommenden Jahres aus - und die Bundestagswahl findet im Herbst 2017 statt. "Sigmar Gabriel hat als Parteivorsitzender und Vizekanzler natürlich das Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur", sagt Schulz dazu lediglich. Explizit ausgeschlossen ist eine eigene Kandidatur damit aber nicht. Offiziell will die SPD über diese Frage Anfang 2017 entscheiden.

An diesem Freitag in Duisburg jedenfalls klingt Martin Schulz' Vortrag vor mehr als 600 Parteifreunden streckenweise schon wie eine Bewerbung. "Duisburg ist eine schöne Stadt, sie erinnert mich an meine Heimatstadt", schmeichelt Schulz den Genossen des mitgliederstärksten Landesverbandes. Er selbst sei mit Kohle und Stahl aufgewachsen, sei in Würselen bei Aachen Bürgermeister einer Stadt gewesen, die ebenso wie das Ruhrgebiet mitten in einem Umbau stecke.

Natürlich schlägt der Europapolitiker alsbald auch den Bogen zum Brexit, äußert sein großes Bedauern: "Die EU ist ohne Großbritannien, die zweitgrößte Volkswirtschaft im Binnenmarkt, schwächer." Ebenso wie auch jedes einzelen Land schwächer sei ohne die EU. Später wird er in die Mikrofone sagen: "Ich wäre ja eine Maschine, wenn der Brexit mich nicht tief berühren, ja, verletzen würde." Er nehme das auch als persönliche Niederlage wahr, sagt er, verbessert sich aber sogleich und fügt leise hinzu: "Rückschlag trifft es besser."

Doch vor den Genossen im Saal kommt Schulz von der Europapolitik sehr schnell wieder auf das Ruhrgebiet zu sprechen, macht er sich zu einem von ihnen: "Als Europapolitiker spüre ich diese Entfernung von den Menschen, weil wir immer Milliarden verteilen." Er wisse aber genau, dass für die meisten schon 1000 oder 2000 Euro sehr viel Geld seien.

Vor diesen Leuten gelte es, Respekt zu haben, ihnen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Dazu gehöre eine Arbeit, von der man leben und einmal im Jahr in den Urlaub fahren könne. Und den Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können. "Für ein Leben in Würde zu sorgen - das ist der Auftrag der Sozialdemokratie seit 153 Jahren, auch hier im Ruhrgebiet", schließt er seine Rede. Schulz kommt an mit seiner Botschaft, die Parteifreunde zollen Applaus.

Für Schulz selbst sah es nicht immer so aus, als wäre für ihn ein Leben in Würde selbstverständlich. Er war kein guter Schüler auf dem katholischen Heilig-Geist-Gymnasium in Broich. Ausgerechnet in Latein habe es besonders gehapert, erzählt Jugendfreund Schultheis. So bekam der Sohn eines Polizeibeamten nicht die Zulassung zum Abitur, er machte stattdessen eine Ausbildung zum Buchhändler.

Etwa zur selben Zeit zerplatzte ein weiterer Traum: Wegen einer Knieverletzung musste er seinen Plan begraben, Profi-Fußballer zu werden. Schulz begann zu trinken, wurde zum Alkoholiker und machte als 25-Jähriger eine Entziehungskur. Seither rührt er keinen Alkohol mehr an. Mit dieser Phase geht Schulz offen um. "Er steht dazu", meint auch sein Jugendfreund, der heute Lehrer ist und seinen Schülern anhand dieses Vorbilds beibringen will, dass es immer einen Weg zurück gibt. Danach ging es für Schulz voran. Mit 31 Jahren wurde er Bürgermeister von Würselen und damit der seinerzeit jüngste Nordrhein-Westfalens. 1994 wurde er ins Europäische Parlament gewählt und 2012 dessen Präsident.

Seinen alten Kumpeln im SPD-Ortsverein Dürwiß, einem Ortsteil von Eschweiler, ist das herzlich egal. Für viele hier ist und bleibt er schlicht "der Martin". Als Schulz am Freitagabend mit leichter Verspätung das voll besetzte Hinterzimmer des Schankraums in der Kneipe "Bei Kelche" betritt, wird er mit warmem Applaus begrüßt. Und als er vor das Mikrofon tritt, um eine Ansprache zum 70-jährigen Jubiläum des Ortsvereins zu halten, spielt Alleinunterhalter Jürgen Meier vom "Half-Live-Musik-DJ-Projekt" extra einen karnevalistischen Tusch.

Gestochenes Hochdeutsch wäre fehl am Platz, automatisch verfällt Schulz' hier stärker in den rheinischen Tonfall. "Leo, links von Dir kam nur noch der Braunkohletagebau", spielt er auf längst ausgestandene Richtungskämpfe im Ortsverein an. Einem anderen ruft er zu: "Du hattest Dein Schlafzimmer da, wo ich geboren bin - das hat Geist herabregnen lassen."

Auch hier versucht er es mit der Botschaft der Sozialdemokraten von Respekt und einem würdigen Leben. Doch in Dürwiß sind gerade andere Dinge wichtig: Zwei Krankenhäuser werden zusammengelegt, Kinder kommen künftig in Stolberg zur Welt - und nicht mehr in der Heimatstadt Eschweiler.

Der Stimmung tut's keinen Abbruch: Beifall, rote Rosen und Pralinen sind Schulz gewiss. Mit den besten Wünschen und einem "Mach' et jot, Martin", wird Schulz verabschiedet. Und Jugendfreund Dietmar lässt sich über dessen fußballerische Qualitäten als linker Verteidiger aus, damals, mit 16, als sie westdeutscher Vizemeister wurden und im Endspiel gegen Schalke 04 verloren: "Der Martin konnte kämpfen, traf er den Ball nicht, traf er den Gegner."

Diesen Kampfgeist wird er vielleicht schon bald gut gebrauchen können.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort