Pressestimmen "Mit Martin Schulz erhält Angela Merkel einen angriffslustigen Herausforder"
Die Kanzlerkandidatur von Martin Schulz für die SPD und der damit verbundene Rückzug von Sigmar Gabriel ist von vielen Zeitungen kommentiert worden. Ein Blick in die Meinungsspalten.
Rheinische Post: "Mit Schulz' Nominierung hat die SPD für eine Überraschung gesorgt. Der Rheinländer wird dieses Momentum nutzen wollen. Dass er nicht in den Kulissen der Berliner Republik agierte, muss nicht entscheidend sein. Das Brüsseler Parkett ist auch rutschig. Sein Narrativ wird Europa sein, das große Thema in einem Brexit-Trump-Le-Pen-Jahr. Damit hätte die SPD schon mal mehr zu bieten als im Wahlkampf 2009 und 2013."
Die Welt: "Anders als dem bislang letzten SPD-Kanzler Gerhard Schröder fehlte Gabriel sowohl jener unerlässliche Machthunger, der zum Rütteln an Kanzleramtstoren führt, als auch die klar definierte Vision für ein Deutschland und Europa, wie es unter seiner Führung aussähe. Er war sprunghaft, angenehm zustimmungsbedürftig, aber stets ein wenig zu klein dimensioniert für dieses Amt. All das hat Gabriel nun wohl bewogen, abzusagen und Martin Schulz vorzuschlagen als Parteichef und Kanzlerkandidaten. Unübersichtlich war die Lage, was Gabriels Wunsch nach einem Wechsel ins Auswärtige Amt betrifft. Da dürfen jedoch leichte Zweifel angebracht sein, ob Gabriel, der bislang nicht durch diplomatisches Fingerspitzengefühl aufgefallen ist, der richtige Mann ist. Und ob ausgerechnet das Außenamt mehr Zeit für die Familie lassen wird - in Zeiten von Trump und Brexit."
Lausitzer Rundschau: "Die Ära Gabriel ist für die SPD nun vorbei. Endgültig. Eine neue beginnt. Martin Schulz ist ein anderes Kaliber, auch für Angela Merkel. Er ist weit stärker von der Sache und weit geringer von sich selbst getrieben. Er ist für seine Partei viel mehr, aber für die Gegenseite viel weniger kalkulierbar. Er riecht nicht nach Großer Koalition. Mit ihm werden die Karten in Berlin, wo so viele seit so vielen Jahren politisch ineinander verhakt und miteinander verbandelt sind, im wahrsten Sinne des Wortes neu gemischt. Aber Schulz muss sich in seiner Partei erst noch durchsetzen, überhaupt in der Bundespolitik, und darin liegt das große Risiko dieser erneut völlig unvorbereiteten Nominierung."
Frankfurter Rundschau: "Ist Martin Schulz der Mann, der den Rat des Nochvorsitzenden befolgen wird? Steht er für den Versuch, die deutsche Sozialdemokratie doch wieder zu einer Partei zu machen, die Merkel entschieden herausfordert und sich nicht insgeheim darauf vorbereitet, ihr doch wieder als Juniorpartnerin zu dienen? Was die Person Schulz betrifft ist an seiner Qualifikation als Wahlkämpfer und Herausforderer kaum zu zweifeln. So etwas zählt in der Zeit der personalisierten Politik, und geringzuschätzen ist es deshalb sicher nicht. Aber wofür steht der lustige Mann aus Würselen? Wenn mehr zur Wahl stehen soll als die prinzipielle Fortsetzung des Merkelismus mit neuem, beliebtem Gesicht; wenn die Absage vieler Menschen ans großkoalitionäre 'Weiter so' tatsächlich in der SPD ihren Ausdruck finden soll - dann müssen schon auch ein paar Inhalte her. Und es ist schon erstaunlich, wie wenig davon Martin Schulz während seines politischen Aufstiegs preisgegeben hat."
Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Der Parteivorsitzende zieht die Notbremse, weil die Umfragen seit Monaten so sind, wie sie sind, und weil er weit davon entfernt war, zum echten Herausforderer Angela Merkels zu werden. Auf die Partei wirkte das seit Monaten lähmend und deprimierend. Gabriels Kanzlerkandidatur wäre als "Opfergang" ausgelegt worden, nicht gerade die ideale Begleitmusik für einen Wahlkampf aus einer ohnehin hoffnungslosen Defensive. Unter diese nahezu ausweglose Perspektive hat Gabriel nun einen Schlussstrich gezogen. Nach allem, was er für die Partei getan hat, verdient das Respekt. Den zollt er sich gewissermaßen selbst, indem er ins Außenamt wechselt. Das ist ein Rückzug, aber alles andere als ein Abschied."
Tagesspiegel (Berlin): "Die von Gabriel angestrebte neue Ämterverteilung wirft Fragen auf. Als Außenminister wäre Martin Schulz, der langjährige Präsident des Europaparlaments, sicher die bessere Wahl gewesen. Gabriel hat sich bisher nicht als geborener Diplomat hervorgetan. Trotzdem wird die Erleichterung in der SPD über die Kanzlerkandidatur von Schulz wohl überwiegen. Der gilt als begabter Wahlkämpfer und starker Redner, in der Bevölkerung ist er beliebt, schon fast so beliebt wie Merkel. Ob das so bleibt, ob Schulz den Niedergang der SPD stoppen kann? Es wird vor allem darauf ankommen, dass er, der leidenschaftliche Europäer, sich auch in Fragen der deutschen Innenpolitik als sattelfest erweist."
Hessische/Niedersächsische Allgemeine (Kassel): "Nicht ohne Neid wird Sigmar Gabriel auf jenen Genossen blicken, der 2009 als Kanzlerkandidat mit 23 Prozent zwar das schlechteste SPD-Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik holte, jetzt aber als nächster Bundespräsident den goldenen Herbst eines glücklichen Politikerlebens vor sich hat: Frank-Walter Steinmeier. Gabriels SPD liegt mit Umfragewerten bei 20 Prozent noch unter dem katastrophalen Wert von 2009. So sichert sich der Vorsitzende mit dem Auswärtigen Amt das, was er auch ohne Zustimmung des Wahlvolks gerade noch bekommen kann. Und weist gleichzeitig Martin Schulz in dessen Landeanflug auf die raue deutsche Wirklichkeit die ungemütlichsten Landeplätze an, welche die SPD zu vergeben hat: die Kanzlerkandidatur und den Parteivorsitz. Fast hat man Mitleid. Armer Martin Schulz."
Hannoversche Allgemeine Zeitung: "Auf Martin Schulz, der auch Parteichef werden soll, liegt jetzt sehr viel Verantwortung. Indem Gabriel auch gleich für den Posten des Vorsitzenden seinen Verzicht erklärte, verstärkte er zwar den ersten Schreck. Aber er erspart sich und seiner Partei, dass der quälenden Debatte über die K-Frage noch eine über die V-Frage folgt. Gabriel hat an dieser Stelle nichts Ungeheuerliches getan, sondern klugerweise nur die Taste fürs Vorspulen gedrückt - und reinen Tisch gemacht."
Kölner Stadt-Anzeiger: "SPD-Chef Sigmar Gabriel hat dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz einen Fehlstart beschert. Gabriels Missmanagement in der Kandidatenfrage bestärkt das Bild des sprunghaften Politikers, das in der Öffentlichkeit vorherrscht. Genau dieses hat ursächlich dazu beigetragen, dass sich die wenigsten Deutschen Gabriel als Kanzler vorstellen mögen. Gabriel hat also viele Fehler auf dem Weg zum Kandidaturverzicht gemacht. Der Verzicht selbst ist deshalb aber nicht falsch. Womöglich geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Es spricht zumindest manches dafür, dass Schulz diese besser hinbekommt als Gabriel."
Berliner Zeitung: "Es ist der Frust über Gabriel, der einen beträchtlichen Teil der Schulz-Euphorie auf allen Flügeln der Sozialdemokratie speist. Solange sein Name nur als eine denkbare Option gehandelt wurde, eignete er sich hervorragend als Projektionsfläche aller möglichen Erwartungen. Nun muss Schulz sich inhaltlich positionieren, und natürlich wird das zu Enttäuschungen führen. So ist es schon bemerkenswert, dass die SPD mit einem Kandidaten antritt, über dessen Positionen in der Sozial-, der Steuer- oder der Innenpolitik man praktisch nichts weiß. Schulz hat sich alleine als leidenschaftlicher Europäer einen Namen gemacht."
Pforzheimer Zeitung: "Schulz wird Merkel glaubwürdiger und überzeugender herausfordern können als Gabriel, der in den vergangenen fast vier Jahren als Vizekanzler die große Koalition mit anführte. Auch wenn Schulz so manches gemeinsame Süppchen mit den Konservativen in Brüssel und Straßburg kochte, bundespolitisch geht er unbelastet in die Auseinandersetzung mit CDU und CSU. Eine SPD mit einem Kanzlerkandidaten Schulz kann der Union also sehr viel gefährlicher werden als mit Gabriel. Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick könnte Merkel am Ende sogar noch von dem stärkeren Herausforderer profitieren. Denn wer Rot-Rot-Grün verhindern will, wird bei der Bundestagswahl Merkel wählen müssen. Keine Frage: Gabriels Rücktritt macht nicht nur die SPD, sondern auch die Politik wieder lebendiger."
Münchner Merkur: "Der Bundespolitik tut frischer Wind gut. Es ist kein gesunder Zustand, wenn die einzige Alternative zu einer übermächtigen Kanzlerin in einer Partei besteht, die nicht nur die Regierung stürzen will, sondern gleich das ganze System. Mit Martin Schulz erhält Angela Merkel einen angriffslustigen, in seiner Partei populären und in Europa gut vernetzten Herausforderer, der mit seinen 61 Jahren zwar nur einen Lenz jünger ist als sie, aber dennoch den Reiz des in der Bundespolitik Unverbrauchten mitbringt. Schulz ist Merkels nun schon siebter Gegenspieler an der Spitze der anderen Volkspartei. Er könnte im Herbst ihrer Kanzlerschaft ihr unangenehmster werden."
Mitteldeutsche Zeitung (Halle): "Die Menschen in Deutschland wollen nicht das Gefühl vermittelt bekommen, da bewirbt sich einer nur deshalb um das mächtigste Amt im Land, weil ein anderer kurzfristig abspringt. Auch eine Partei möchte diesen nicht Knall auf Fall über ein Interview in den Medien vorgesetzt bekommen. SPD-Chef Gabriel hat diese Grundregeln missachtet - und damit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz einen Fehlstart beschert."
Freie Presse (Chemnitz): "In Zeiten, in denen das politische Establishment auch hierzulande massiv unter Beschuss steht, wäre es der SPD nicht gelungen, den Vizekanzler Gabriel glaubhaft in den Herausforderer zu verwandeln. Die Erfolgschancen der ohnehin schwächelnden SPD wären ins Bodenlose abgefallen. Zwar wird auch mit Schulz ein "Etablierter" Kandidat. Doch der Mann aus Straßburg ist in der Bundespolitik unbelastet. Seine Umfragewerte sind zudem gut. Vor allem aber: Schulz war nie in Merkels Kabinett. Er zeichnet somit nicht verantwortlich für die Große Koalition. Mit dieser Distanz hat Schulz gegenüber Gabriel einen großen Vorteil im Wahlkampf. Mehr noch, Schulz ist derzeit sogar die einzig reelle Chance für die SPD. Das hat auch Gabriel erkannt. Sein Verzicht ist somit ein Dienst an der Partei. Eine Erfolgsgarantie für die Genossen ist er aber mitnichten."
Mittelbayerische Zeitung (Regensburg): "Es war offenbar vor allem die nüchterne Einsicht in die eigene Chancenlosigkeit, die Sigmar Gabriel jetzt dazu veranlasste, für Martin Schulz Platz zu machen. Nicht der SPD-Vorsitzende wird der Herausforderer der Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel, sondern der in unzähligen Brüsseler und Straßburger Schlachten gestählte Europäer Martin Schulz. Gabriels Verzicht auf die Spitzenämter ist dabei weniger großmütig als vielmehr parteitaktisch geprägt. Würde er im September wirklich gegen eine dann möglicherweise wieder erstarkte Kanzlerin antreten, würde er vermutlich die vierte Wahlschlappe für die Genossen in Folge einfahren. Das könnte die SPD vollends in den Abgrund stürzen."
Neue Osnabrücker Zeitung: "Sigmar Gabriel hat der SPD mit seinem Abgang aus der ersten Reihe einen Dienst erwiesen. So genial und witzig der Noch-Vorsitzende oft ist, so unberechenbar und daher tendenziell richtungslos wirkt er. Seine Stärke, die pragmatische Unvoreingenommenheit mit der Neigung zum entschlossenen Schwenk, wurde zugleich zur Schwäche. Hat Martin Schulz bessere Chancen? Der scharfzüngige, manchmal großspurige Verfechter eines starken Europas kann sich zumindest verkaufen, verfügt über unbändigen Ehrgeiz und ist nicht verbrannt. Außerhalb der Kabinettsdisziplin kann er im Wahlkampf zudem schärfer gegen Merkel schießen und offener mit den Linken flirten als Gabriel als Vizekanzler und Außenminister. Dessen Entscheidung zum Verzicht ist daher klug."
Südwest Presse (Ulm): "Es wird jetzt alles davon abhängen, wie eng sich die Parteiführung um Gabriel und Schulz schart, wieviel Selbstdisziplin und Geschlossenheit die SPD insgesamt aufbringt und wie schnell die Genossen nach diesem Paukenschlag zu einer neuen Formation finden. Und selbst wenn die alles andere als unumstrittenen Personalentscheidungen getroffen sind, ohne dass es größere Reibungsverluste und zusätzliche Verletzungen gibt, steht der wieder einmal durchgeschüttelten SPD die schwierigste Aufgabe ja noch bevor: Sie muss die Arbeit der schwarz-roten Koalition ordentlich zu Ende bringen und sich rüsten für einen Wahlkampf, dessen Verlauf und Ergebnis so offen sind wie nie."
Darmstädter Echo: "Es gibt nicht wenige, die sagen, dass die SPD mit Gabriel die Wahl weggeschenkt hätte. Mag sein. Aber ob Schulz die glänzende Alternative ist? Er ist international bestens verdrahtet, hat im Gegensatz zu Gabriel zumindest ansatzweise Talent zum Volkstribun - und ist trotzdem in den Augen vieler vor allem ein EU-Funktionär. Im Jahr 2017 nicht die allerbeste Referenz, gegen die sich prächtig Wahlkampf machen lässt. Immerhin war er nie Mitglied eines Kabinetts Merkel. Das könnte Pluspunkte bringen. Ob das aber den Malus eines innenpolitisch weitgehend unbeschriebenen Kandidaten aufwiegt, ist damit noch lange nicht gesagt. Und somit ist der Einzige, für den sich die Dinge erst einmal verbessert haben, Sigmar Gabriel."
Westfälische Nachrichten: "Gabriel hat sich in den fast acht Jahren als Parteichef zweifellos große Verdienste um die Einheit der Sozialdemokratie erworben. Aber: Nie stand die Partei geschlossen hinter dem impulsiv und mitunter unberechenbar agierenden Frontmann, sicherlich auch deshalb nicht, weil Gabriel die SPD nie aus dem 20-Prozent-Umfragekeller zu führen vermochte. (...) Für den Kandidaten Schulz spricht seine persönliche Beliebtheit und die Tatsache, dass er im Unterschied zu Gabriel keine belastenden großkoalitionären Mühlsteine mit ins Rennen gegen Merkel nehmen muss. (...) Gut möglich, dass Gabriels große Verzichts-Geste die SPD und die geneigte Wählerschaft neu zu mobilisieren vermag – garantiert aber ist das nicht."
Aachener Zeitung: "Manche unterschätzen ihn noch immer, vermissen in seinem Lebenslauf Abitur und Studium, messen Kompetenz an Stationen, Daten, akademischen Ehren. Wer Schulz seit Jahren erlebt, weiß, mit welcher Akribie, mit welcher Detailkenntnis und mit welch' gediegener Bildung er unterwegs ist. Als viel beschäftigter Europapolitiker fand er noch Zeit, ein ambitioniertes, kritisches, hintergründiges, analysierendes Buch zu schreiben: 'Der gefesselte Riese - Europas letzte Chance'. Da redet er Tacheles, und das klingt wie ein Wahlprogramm für bessere europäische Zeiten."
Allgemeine Zeitung (Mainz): "Aber ob Schulz die glänzende Alternative ist? Er ist international bestens verdrahtet, hat im Gegensatz zu Gabriel zumindest ansatzweise Talent zum Volkstribun - und ist trotzdem in den Augen vieler vor allem ein EU-Funktionär. Im Jahr 2017 nicht die allerbeste Referenz, gegen die sich prächtig Wahlkampf machen lässt. Immerhin war er nie Mitglied eines Kabinetts Merkel. Das könnte Pluspunkte bringen. Ob das aber den Malus eines innenpolitisch weitgehend unbeschriebenen Kandidaten aufwiegt, ist damit noch lange nicht gesagt. Und somit ist der Einzige, für den sich die Dinge erst einmal verbessert haben, Sigmar Gabriel. Seine Einsicht in Notwendigkeiten war überfällig. Für die SPD hingegen ist nach wie vor so gut wie alles offen."
Weser-Kurier (Bremen): "Sigmar Gabriel verzichtet - na und? Bei rund 20 Prozent steht die SPD derzeit in den Umfragen, von der stolzen Volkspartei, die sie einst war, bleibt ein Schatten. Selbst Rot-Rot-Grün taugt, Stand heute, nicht zur Machtoption im Bund. Und als Junior-Partner der Union stellt die SPD nun einmal keinen Kanzler. Die SPD hat einst die Grünen hervorgebracht, als sie Rüstungs- und Atomkraftgegnern keine Heimat bot. Das war die Zeit von Helmut Schmidt. Und sie hat die Linke stark gemacht, als Gerhard Schröder regierte und sich der Mitte zuwandte. Dort steht sie nun, auf einen bürgerlichen Kern reduziert, in sich zerrissen. Sie wird sich neu erfinden müssen, und sie wird einen brauchen, der so lange am Zaun des Kanzleramts rüttelt, bis er selber dort einzieht. Ob Martin Schulz das ist?"
Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg): "Der Europapolitiker Martin Schulz macht seit Jahren nichts anderes als internationale Politik. Die Einarbeitungszeit wäre also deutlich kürzer gewesen, als bei jedem anderen Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier. Nein, Gabriel hat das alles nicht gut gemanagt. Und dass er die Botschaft auch noch per Exklusiv-Interview unter die Leute bringt, ist ebenso selbstsüchtig wie stillos. Wenigstens das kann mit Schulz nur besser werden."
Stuttgarter Zeitung: "Die SPD mit Schulz an der Spitze steht vor einer Herkulesaufgabe. Der Kandidat startet mit zusätzlichem Ballast, weil der Soloritt des Noch-Vorsitzenden seine Partei älter aussehen lässt als sie ohnehin schon ist. Der Name Schulz, der tatsächlich am ehesten wieder ein wenig Zugkraft für die SPD entwickeln könnte, hätte viel früher fallen müssen. Nach Wochen und Monaten, in denen es für die meisten Parteimitglieder so glatt auf Gabriel zuzulaufen schien, kommt sein Rückzug als weiterer schwerer Schlag für eine bereits angezählte Partei daher."
Nordwest-Zeitung (Oldenburg): "Ob Gabriel Chancen gehabt hätte, die SPD mit seiner Kandidatur aus dem Meinungstief zu holen? Sie hätten wahrscheinlich besser gestanden, als man es dem raunzigen Gabriel zutraut. Gabriel, der genauso viele innerhalb und außerhalb seiner Partei vor den Kopf gestoßen wie er Unterstützer hat, ist ein politisches Naturtalent, das die Probleme der SPD-Anhänger klar formulieren und ansprechen kann. Leider ist er aber auch ein Politiker mit wechselhaften Launen, der - was zum Beispiel die Steuerpolitik betrifft - nicht immer zielsicher auf das richtige Thema setzt. Ob Martin (...) mehr Wähler der Mitte oder der Linken erreicht? Für die SPD könnte es genauso auf eine Legislaturperiode in der Opposition hinauslaufen und eine Regierungsbildung mit Schwarz und Grün."
Südkurier (Konstanz): "Wenn die Stimmung nicht täuscht, hat die SPD keinerlei Perspektive, solange in Berlin Angela Merkel regiert. Eine Mehrheit mit Grünen und Linken ist weit und breit nicht in Sicht, ein Weiter-So in der großen Koalition zehrt die Sozialdemokratie weiter aus. Im Grunde geht es in der K-Frage für die Genossen um die Entscheidung, wer die Ehre hat, gegen Merkel zu verlieren, wie Wolfgang Schäuble einmal spöttisch anmerkte. Das erklärt, warum Gabriel nicht mehr will - und warum seine Partei auf Schulz setzt und nicht auf Scholz. Der Edel-Genosse aus Hamburg, in der Hansestadt über alle Parteigrenzen hinweg geschätzt und mit einem üppigen 45-Prozent-Ergebnis ausgestattet, hat zweifellos das Zeug für eine glänzende Karriere im Bund. Warum aber soll er sich in einem aussichtslosen Rennen gegen Merkel verheizen lassen? Der Europa-Pensionär Schulz hingegen hat nichts zu verlieren."
Ostthüringer Zeitung (Gera): "Selbst wenn das Erwartete passiert, ist die alte Tante SPD noch in der Lage, für Überraschungen zu sorgen. Martin Schulz galt als heißer Anwärter auf den Job, wer noch am besten abschneidet im erfolglosen Ringen um die Kanzleraufgabe gegen Angela Merkel. Am Wochenende sollte der Parteivorstand das entscheiden. Monatelang hielt SPD-Chef Sigmar Gabriel dicht - und ein paar Tage vor dem Zeitplan platzt es aus ihm heraus. Und den Posten als Parteichef will er auch gleich loswerden. Da ist offenbar jemand schwer beleidigt, weil er sich unter den Kulissenschiebern nicht durchsetzen konnte."
Flensburger Tageblatt: "Ein wenig tragisch ist es, dass Sigmar Gabriel, der die SPD in bewundernswerter Konstanz aus dem Koma der Wahlniederlagen geholt hat, nicht mit Umfragewerten belohnt wurde. Dafür ist seine Person vermutlich zu polarisierend, er selbst zu rumpelig. Die Windrichtung lief gegen ihn, er hatte nie Rückenwind. Nun gibt er auf und zieht sich ins Amt des Außenministers zurück, das ihm nicht auf den Leib geschrieben ist, denn Gabriel kann alles - außer Diplomatie. Freuen dürfen wir uns auf einen Wahlkampf, der höchst unterhaltend wird. Die spröde, erfahrene Merkel, der temperamentvolle, erfahrene Schulz. Die Deutschen haben eine echte Wahl am 24. September."
Rhein-Zeitung (Koblenz): "Dennoch gerät Schulz' Kür zum Kanzlerkandidaten zur Pleite für die SPD. Nachdem die Sozialdemokraten die Entscheidung monatelang wie ein Staatsgeheimnis behandelten, gibt Gabriel nun treuherzig ein Interview und meint, die Nachricht werde schon nicht vorzeitig durchsickern. Das ist für einen wie ihn, der den Berliner Politikbetrieb wirklich kennt, erstaunlich naiv. Die Sozialdemokraten sind zu Recht sauer auf ihren Chef, der mal wieder erst mit der Presse geredet hat, bevor sie seine Pläne erfuhren. Manch einer gönnt Gabriel jetzt noch nicht einmal mehr den angestrebten Posten als Außenminister. Stilistisch ist diese Kandidatenkür unterirdisch."
Thüringische Landeszeitung: "Nun also Schulz: Der Mann wird sich anstrengen müssen und mehr benötigen für ein respektables Ergebnis der SPD als ein bisschen Schulterklopfen. Ansonsten geht er schief und schaurig weiter – der Abgesang auf jene Partei, die die größte Tradition aber aktuell auch die mithin am deutlichsten zu Tage tretenden Probleme hat, sich in einer Welt aufzustellen, in der alte Gewissheiten nur noch dies sind: alt und ungewiss. Schulz wird sich beweisen müssen."
Mindener Tageblatt: "Empfohlene Taktik in vermeintlich auswegloser Situation ist die Flucht nach vorn - oder aber Aufgabe. Sigmar Gabriel kombiniert beides, überlässt Martin Schulz Kanzlerkandidatur nebst (?) Parteivorsitz und überwintert als Außenminister entweder bis zur nächsten GroKo oder der Übernahme der Oppositionsführer-Bürde. Vielleicht hat er aber auch noch ganz andere Pläne, solche privater Natur vielleicht. Wer weiß das schon. In jedem Fall steht die SPD jetzt mit einem Kanzlerkandidaten da, der zeigen muss, ob er sein Hoffnungsträger-Image auch in Wählerstimmen ummünzen kann. Regierungserfahrung hat er nicht, aber das ist in den heutigen Zeiten anderswo ja auch nicht mehr so wichtig. Schulz ist ein glänzender Redner, ein kluger Kopf und jemand, der sich auch jenseits sozialdemokratischer Kernklientel bestens verkaufen kann. Insofern hat Gabriel alles richtig gemacht."
Rheinpfalz (Ludwigshafen): "Martin Schulz ist der große Hoffnungsträger der SPD. Diese Hoffnung beruht allerdings nur darauf, dass er es zu größerer Popularität als Gabriel gebracht hat. Schulz ist mutig, nimmt selten ein Blatt vor den Mund, traut sich viel zu und hat kaum Skrupel, seinen Willen durchzusetzen. Er ist europäisch gut vernetzt. Aber: Schulz hat keine Regierungserfahrung. Tiefen und Untiefen deutscher Innenpolitik sind ihm nicht so vertraut. Das ist nicht zwangsläufig ein Nachteil, aber ein Risiko. Und Zeit, die SPD intensiv kennenzulernen und auf seine Linie zu bringen, hat er nicht mehr viel bis zum Beginn des Wahlkampfes."
Landeszeitung (Lüneburg): "Als Außenminister wäre Martin Schulz in Zeiten von Brexit und Trump wohl die bessere Wahl gewesen. Nun aber soll der leidenschaftliche Europäer bei der Bundestagswahl Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für die SPD herausfordern. Der überraschende Verzicht Sigmar Gabriels auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz zwingt den 61-jährigen Neuling in das Duell, das - gemessen an den Umfragewerten für seine Partei - kaum zu gewinnen ist. Allemal kommt nun aber wieder mehr Leben in die dahinplätschernde Bundespolitik. Frei von Amt und Mandat in der schwarz-roten Regierung kann Schulz seine Herausfordererrolle in der gebotenen Streitbarkeit annehmen. Anders jedenfalls als der in die Kabinettsdisziplin eingebundene Gabriel. Ihm mangelte es an Rückhalt in der eigenen Partei, zudem scheint dem Familienmenschen Gabriel wegen seines privaten Glücks auch die Motivation etwas abhanden gekommen zu sein."
Nürnberger Nachrichten: "Schulz dürfte die SPD als Chef mehr motivieren als Gabriel, er ist ein Antreiber, der anfeuern kann. Aber er muss sich erst hineinknien in die Niederungen der Innenpolitik, die er kaum kennt - die aber, Stichwort Sicherheit und Terror, ein zentrales Thema sein wird im längst laufenden Wahlkampf. Den hat auch Gabriel sofort nach seinem Paukenschlag gestartet - mit einer Rundum-Attacke auf Angela Merkels Kurs. Seine Analyse, was ihren Anteil an der Krise Europas angeht, mag ja stimmen. Aber: Gabriel selbst ist immer noch Merkels Vizekanzler, er hat die Entschlüsse, die er nun kritisiert, alle mitgetragen. Es wäre überzeugender, er überließe die Abteilung Attacke dem Kämpfer Martin Schulz."
Volksstimme (Magdeburg): "Sigmar Gabriel verzichtet auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz. Angesichts nach wie vor schlechter SPD-Umfragewerte ist in großen Teilen der Partei Erleichterung zu verspüren, dass der bis zuletzt unberechenbare Gabriel den Weg frei macht für Martin Schulz. Allerdings: Zaubern kann auch der neue Hoffnungsträger nicht. Zwar ist Schulz als großer Europäer anerkannt. Doch seine Fähigkeiten auf dem glatten innenpolitischen Parkett muss er erst noch beweisen. Viel Zeit bleibt ihm nicht. Zu erwarten ist, dass Schulz der SPD, die zunehmend mit Gabriel fremdelte, erstmal einen Motivationsschub beschert. Die Ausgangslage für den Bundestagswahlkampf hat sich schlagartig verändert. Kanzlerin Angela Merkel bekommt einen anderen SPD-Herausforderer als erwartet. Einen, der populärer ist als Gabriel. Einen, der im Wahlkampf Merkel härter attackieren kann als ein in die Kabinettsdisziplin eingebundener Minister. Der Wahlkampf dürfte unvorhersehbarer, lebendiger und spannender werden."
Börsen-Zeitung: "Schulz ist als Kandidat für die Wähler zwar ein frisches Gesicht, aber innenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt. Wofür er in der deutschen Politik steht, das muss er noch darlegen. Viel Zeit bleibt dem Import aus Brüssel bis zum 23.September nicht, sein Bild hierzulande zu formen. Der 61-Jährige wird die nur unwesentlich ältere Kanzlerin Angela Merkel als CDU-Kandidatin herausfordern. Ein personeller Neuanfang sieht anders aus. Auch die Kabinettsumbildung auf SPD-Seite setzt auf bewährtes Personal. Das Bundeswirtschaftsministerium wird künftig die gestandene Brigitte Zypries führen, die dort schon als Staatssekretärin wirkt und Erfahrung als Justizministerin hat. Keine Experimente, so scheint es."
Badische Neueste Nachrichten (Karlsruhe): "Wer in Zeiten wie diesen mit Blick auf Trump, Putin und Erdogan für stabile politische Verhältnisse und den Schulterschluss der Demokraten eintritt, kann nicht im gleichen Atemzug für den politischen Kurswechsel werben. In diesem Jahr hat innere Sicherheit absoluten Vorrang vor der sozialen Sicherheit, da aber schreiben die Wähler der SPD deutlich weniger Kompetenz zu als der Union. Merkels Wahlkampf gegen Schulz, den Neuling auf der Bühne der Bundespolitik, wird darauf abzielen."
Ludwigsburger Kreiszeitung: "Das war stillos von Sigmar Gabriel, und wenn die SPD nicht mehr Geschlossenheit demonstrieren muss, um nicht gleich die erste Wahlkampfphase zu versauen, wird er es auf die eine oder andere Art zu spüren bekommen. Es ist stillos, alle zum Schweigen bis zum 29. Januar zu verdonnern, aber vorher einigen Medien sämtliche Entscheidungen mitzuteilen. Es ist stillos, sich ein zweites Mal als Parteichef zu verdrücken, wenn der Wahlkampf gegen Angela Merkel naht. Einer, der von sich zu wissen glaubt, dass er nicht als Kanzlerkandidat taugt, sollte gar nicht erst Vorsitzender einer großen Volkspartei werden."
Westfalen-Post: "Sigmar Gabriel hat wieder einmal alle überrascht. Der Rücktritt von der sicheren Kanzlerkandidatur, die Aufgabe des Parteivorsitzes ist ein echter Coup. Und so viel ist sicher: Für Amtsinhaberin Angela Merkel wird der Wahlkampf eindeutig schwerer. Martin Schulz bringt neben hervorragenden Beliebtheitswerten auch eine echte Wettkampfhärte mit."
Schwarzwälder Bote (Oberndorf): "Wie man es auch dreht und wendet: Überzeugend kann man die sozialdemokratische Kür ihres Spitzenkandidaten nicht nennen. Die Genossen haben eine Chance verspielt, ihren Spitzenmann mit Emphase, Schneid und Botschaft ins Rennen gegen Angela Merkel zu schicken. Für Sigmar Gabriel dürfte es das gewesen sein. Selbst wenn - wie zur Abfindung - das Amt des Außenministers winkt. Ob Martin Schulz die SPD aufrichten kann? Überraschungen sind drin. Das Wahljahr 2017 legt also furios los. Das zeigt: Schon jetzt ist Dampf im Kessel. Es bleibt aufregend!"
Leipziger Volkszeitung: "Monatelang hat der Chef bei seinen Leuten Ruhe erzwungen. Monatelang hat er ihnen das Festhalten an einem Zeitplan gepredigt. Und dann schnipste er diesen Zeitplan plötzlich weg wie einen Krümel vom Ärmel: Selten ist eine Partei von ihrem Vorsitzenden so überrumpelt worden wie die SPD von Sigmar Gabriel. Auf Schulz, der auch Parteichef werden soll, liegt jetzt sehr viel Verantwortung. Indem Gabriel jetzt auch gleich für den Posten des Vorsitzenden seinen Verzicht erklärte, verstärkte er zwar den ersten Schreck. Aber er erspart sich und seiner Partei, dass der quälenden Debatte über die K-Frage noch eine über die V-Frage folgt."
Westfalen-Blatt: "Mag sein, dass Martin Schulz der bessere Herausforderer von Angela Merkel ist. Mag ebenso sein, dass er die Kanzlerin besser angreifen kann, weil er anders als Gabriel nicht für die Große Koalition und das gemeinsame Regieren steht. Mag sogar sein, dass es dem Mann aus Würselen auch ohne große innenpolitische Erfahrung gelingt, die SPD wieder näher an ein 30-Prozent-Ergebnis heranzubringen und damit die kleine Chance auf eine rot-rot-grüne Regierung am Leben zu halten. Mag alles sein. Doch das hätte Gabriel auch mit mehr Stil haben können. Er hat es offenbar nicht gewollt. Sigmar Gabriel hat sich für einen unwürdigen Abgang entschieden."
Der Neue Tag (Weiden): "Geschichte verklärt jeden Politiker: Die kleinen Affären werden vergessen, es bleiben die großen Taten. Wer weiß schon noch, dass Ferdinand Lassalle, Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, den widerstrebenden Vater seiner Angebeteten zum Duell forderte? [...] Willy Brandt: die Depression und die Frauen. Helmut Schmidt und der Nato-Doppelbeschluss. Was bleibt sind die großen Momente: Schmidts Hamburger Flut-Management, Brandts neue Ostpolitik. Ihre Politik und ihr Charisma bewegten die Bürger all ihrer menschlichen Schwächen zum Trotz. [...] Was bleibt von Sigmar Gabriel? Es fehlt einem wenig ein. Seine letzte Chance: etwas Glanz als Außenminister. [...]Was kann einmal von Martin Schulz trotz seiner Schwächen bleiben? Im besten Fall die Erinnerung an einen menschlichen Vorsitzenden, auf dessen Wort wieder Verlass war. Der trotz verheerender Umfragewerte Kurs hielt, um Nation und Europa zu versöhnen. Einer, der sich wie im Europa-Parlament entgegen aller Erwartungen parteiübergreifend Respekt verschafft - Überzeugungstäter statt Umfragejunkie."
Eßlinger Zeitung: "Man kann sich leicht ausmalen, wie schwer Gabriel diese Entscheidung gefallen ist, wie hart er mit sich gerungen haben muss. Als Machtmensch, der er ist, hat er sein halbes Leben darauf hingearbeitet, nach dem Kanzleramt zu greifen. Jetzt war die Zeit dafür reif und die Konstellation wie geschaffen, da die lange unantastbare Kanzlerin ihren Nimbus in den Wirren der Flüchtlingskrise eingebüßt hat - doch da sind eben die Umfragewerte, und die sprechen eine klare Sprache: Gabriel war beim Volk nie beliebt, und er wird es auch nicht mehr. Nie und nimmer hätte er bei der Wahl am 24. September eine Chance gehabt."
Neue Zürcher Zeitung: "Für den neuen starken Mann der SPD, Martin Schulz, kommt die Rochade wie gerufen, hat er doch gerade erst den geliebten Posten des EU-Parlaments-Präsidenten verloren. Für die Partei ist er kein großes Risiko. Er ist bekannt und erfahren und kommt doch von außen. Er dürfte die nötige Abgrenzung vom Koalitionspartner CDU glaubwürdiger anführen und Wähler im linken Parteispektrum erfolgreicher mobilisieren. Ein Sympathieträger ist er darüber hinaus aber nicht."