Erinnerungen an den Altkanzler Meine Kindheit mit Helmut Kohl

Düsseldorf · Wer 1982 zehn Jahre alt war, hat zwischen Grundschule und Zwischenprüfung im Studium keinen anderen Kanzler erlebt als Helmut Kohl. Er war immer da. Das gab Sicherheit, war aber auch ein bisschen langweilig. Unser Autor erinnert sich.

Helmut Kohl – Bilder aus seinem Leben
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Helmut Kohl – Stationen seines Weges

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Ich war zehn Jahre alt, als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Er blieb es die nächsten 16 Jahre. Es waren die wichtigsten in meinem Leben.

Helmut Kohl war wie eine gute Versicherung: immer da. Wenn ich den Fernseher einschaltete, sah ich ihn. Meine Familie lebte in Norddeutschland und hatte in den 80er Jahren nur drei Programme. Auf allen Kanälen war er jeden Abend zu Gast. Er wurde bei uns daheim freundlich begrüßt. Es ist nicht falsch, ihn als Schutzengel meiner Jugend zu bezeichnen.

An ihm prallte ab, was die Deutschen und also mich bedrohte. Meine erste Erinnerung an Kohl ist die an einen mächtigen Körper. Er hielt auf Abstand, was dieser Zeit die Unbeschwertheit hätte rauben können: den Atomschlag, die Kommunisten. Fernseher an, Helmut Kohl da. Zum Glück, wir waren also sicher.

Dabei kann ich nicht mal sagen, dass ich ihn gemocht habe. Ich würde aber auch nicht sagen, dass ich ihn nicht gemocht habe. Eine Bewertung Kohls erübrigte sich. Er gehörte zum Inventar meines Alltags: vor der Schule warme Milch, Weihnachten feiern bei Oma im Wohnzimmer, Kohl Bundeskanzler.

Meine Eltern standen ihm freundlich gegenüber. Sie hatten einen CDU-Aufkleber am Küchenschrank. Die CDU warb darauf mit der Deutschland-Fahne. Deshalb dachte ich: Helmut Kohl ist Deutschland. Meine Familie ließ mich in dem Glauben. Man sollte dazu wissen, dass zu den Lieblingserzählungen, die bei großen Feiern aus dem familiären Geschichtenschatz geholt wurden, die von meiner Oma gehörte. Sie sei bei einer Bundestagswahl mit dem Wahlzettel aus der Kabine gekommen und habe gefragt: "Warum steht denn die CSU nicht drauf?"

Ich genoss die 80er Jahre. Die Unverbrüchlichkeit, mit der Helmut Kohl da war, ließ keine Notwendigkeit zur Politisierung aufkommen. Es war ja alles gut. Also träumte ich vom Leben in den großen Städten, hörte Musik und ging ins Schwimmbad. Einige in meiner Klasse spotteten über "Birne" und den "Dicken". Ich fand das unpassend. Andere schlossen sich der JU an und schmückten ihre Schultaschen mit "FJS"-Aufklebern. Auch das war nicht meins.

Samstags schauten wir daheim gemeinsam "Wetten, dass . .?" mit Frank Elstner. Dort trat Nena auf. "Die finde ich super", sagte ich. "Die kann nicht singen", sagte mein Vater. Meine Mutter schwieg. Als ich volljährig wurde, sorgten sich meine Eltern. "Was willst du denn wählen?" — "Das ist ein Geheimnis." — "Sag doch mal." — "Wahlgeheimnis." — "Du machst ja keinen Blödsinn, oder?" Kurz zuvor hatte ich das rebellische Potenzial erkannt, das sich aus Kohls Kanzlerschaft ableiten ließ.

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Mir gefiel das Dagegensein

Ich erlaubte mir dann und wann eine Spitze gegen ihn. "Ich kann den nicht mehr sehen." Oder: "Der ist wie Thatcher. Aber die ist wenigstens eine Frau." So was eben. Das sorgte immer für einigen Aufruhr. Mir gefiel das Dagegensein. "Deine Mutter hatte auch mal eine renitente Phase", sagte meine Oma. Und dann kam die Geschichte, die ebenfalls sehr beliebt war und von dem Studenten handelte, der seine Füße auf den Wohnzimmertisch meiner Großeltern gelegt haben soll, als meine Mutter ihn als ihren neuen Freund vorstellte. Es blieb sein einziger Auftritt in unserer Familie.

Als Gerhard Schröder Ministerpräsident von Niedersachsen wurde, bedeutete das die erste Abwechslung in meinem politischen Leben. Schröders größter Bonus war das Anderssein. Er war jünger, lässiger, weniger Vaterland. Die Zustimmung für die CDU in meiner Heimatstadt sank damals auf einen Tiefstand von knapp 60 Prozent. Meine Familie sah das Abendland untergehen, schuld war Schröder, der galt als "schmierig". Und überhaupt: Brandt = unfähig, Schmidt = hat es nicht geschafft, Rau = mochte man nicht reden hören.

Zu meiner ersten Stimmabgabe wurde ich also von meinen Eltern begleitet. Ich sollte nicht vom Weg abkommen. Wir gingen danach in die Kirche. Meine Oma saß dort jeden Sonntagabend auf demselben Platz. Als wir nach dem Schluss-Segen raus gingen, klebte ein roter Streifen über dem CDU-Plakat. Darauf stand: "Danke". Kohl blieb Kanzler. Oma sagte: "Gott sei Dank. Jetzt trinken wir einen Cognac."

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Die Wiedervereinigung ist für mich das Bild meines heulenden Vaters

Weil Kohl mich durch seine Anwesenheit entpolitisiert hatte, erkannte ich erst spät die historische Wucht der Maueröffnung. Dafür umso eindringlicher. Mein Vater weinte, als er die Bilder der Richtung Westen rollenden Wartburgs in der Tagesschau sah. Mein Vater hatte zuvor nicht geweint, und danach weinte er auch nicht mehr. Die Wiedervereinigung ist für mich das Bild meines heulenden Vaters. Dafür achte ich Helmut Kohl.

Die zweite Sache, für die er bei mir einen Stein im Brett hat, ist die Dampfwalzen-Aktion im Mai 1991. Damals ging Kohl in Halle auf den stellvertretenden Juso-Vorsitzenden der Stadt los, der ihm ein Ei an den Kopf geworfen hatte. Nun erkannte ich den Menschen, die Emotion. Ich konnte nie verstehen, dass Kohl für diesen Gefühlsausbruch verspottet wurde. Ich fand ihn nachvollziehbar.

Die letzte Phase dieses 16-jährigen Bleibens habe ich als quälend in Erinnerung, das bestimmende Gefühl war Vergeblichkeit. Mich störte die Selbstverständlichkeit, mit der Kohl Kanzler war, die Arroganz, mit der er Journalisten behandelte. Er dachte von sich selbst, er sei Deutschland. Ich dachte längst anders. Entwicklungen wie das Internet, das Phänomen der Globalisierung thematisierte Kohl nicht. Dabei interessierte mich genau das. Er wirkte altmodisch, wie das letzte Symbol einer verwehten Epoche. Der einstige Schutzengel verzögerte den Aufbruch. Ich sehnte mich nach der Gegenwart.

Deutschland wählte bald einen anderen Bundeskanzler

Ich studierte inzwischen in einer größeren Stadt, hatte mich unter anderem für Politologie entschieden. Und als ich wieder mal zu Hause war und mit meinen Eltern "Wetten, dass . .?" guckte, trat dort noch einmal Nena auf. "Nena hat immer noch was", sagte ich. Meine Mutter sagte: "Ich mag sie auch." Mein Vater schwieg. Könnte sein, dass in diesem Moment das Ende von Kohls Karriere besiegelt wurde.

Tatsächlich wählte Deutschland bald einen anderen Bundeskanzler, ausgerechnet Gerhard Schröder. Er war die Alternative gewesen, mit der man kokettiert hatte, nun musste er sich beweisen. Das Ende der Unschuld. Ich fühlte mich in diesem Moment, als hätte mir jemand den Gipsverband vom Bein genommen. Der Gips diente als Schutz, es war darunter warm, aber er schränkte ein. Nun war er ab.

Ich hätte die Freiheit genießen können. Aber das eine Bein sah dünner aus als das andere, und es kam mir ein wenig taub vor. Ich mochte nicht fest auftreten. Also humpelte ich davon. Und dachte wehmütig an die alte Zeit.

Dieser Text erschien erstmalig im April 2010 in der Rheinischen Post.

(hols)
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