Prozess in Istanbul Mesale Tolu darf Türkei weiter nicht verlassen

Istanbul · Deniz Yücel ist frei, er durfte die Türkei verlassen, ebenso Peter Steudtner. Warum nicht auch Mesale Tolu? Sie muss sich vor Gericht verteidigen. Ein Treffen mit der Journalistin in Istanbul.

 Mesale Tolu am asiatischen Ufer des Bospurus.

Mesale Tolu am asiatischen Ufer des Bospurus.

Foto: Susanne Güsten

Mesale Tolu ist dünner geworden, seit sie vor zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das sei aber erst in den vergangenen zehn Tagen passiert, erzählt die Journalistin bei einem Treffen am asiatischen Ufer des Bosporus: Ihr Sohn Serkan geht seit vergangener Woche in den Kindergarten, und die Eingewöhnung des traumatisierten Dreijährigen dort hat ihr körperlich mehr zugesetzt als acht Monate in türkischer Untersuchungshaft.

In Neu-Ulm wartet noch immer ein reservierter Platz im Kindergarten auf Serkan, aber Mesale Tolu und ihr Mann Suat Corlu wollen jetzt erst einmal Stabilität für das Kind schaffen. Schließlich könne sie nicht fest damit rechnen, dass ihr Ausreiseverbot beim nächsten Prozesstermin im April aufgehoben wird, meint Tolu. "Hinter mir steht schließlich nicht der Springer-Verlag", sagt sie und lacht.

Aus dem Fernsehen hat sie am Freitag vergangener Woche von der Freilassung des "Welt"-Reporters Deniz Yücels erfahren - und von seiner Ausreise aus der Türkei. "Überglücklich" sei sie gewesen, sagt die 33-Jährige, die Yücel aus der eigenen Untersuchungshaft einen Solidaritätsbrief geschrieben hatte. Von den Umständen seiner Freilassung und Ausreise weiß sie aber nicht mehr, als sie aus den Medien erfahren hat.

Verstört durch die Trennung während der Haftzeit

Vom deutschen Konsulat hat sie nichts gehört und weiß daher nicht, ob bei den Demarchen von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel für Yücel vielleicht auch für ihren Fall etwas herausgekommen ist. Eher nicht, vermutet sie: "Wenn man eine Linke ist, dann ist klar, dass das nicht dasselbe ist, als wenn man für Springer und 'Die Welt' arbeitet."

Vorläufig versuchen Mesale Tolu und ihr Mann deshalb, für ihren Sohn ein Leben in der Türkei aufzubauen, ihm einen geregelten Alltag und Spielkameraden zu verschaffen. Wenn sie im April dann doch die Ausreiseerlaubnis erhalte, werde es ihm ja nicht geschadet haben, zwei Monate in den türkischen Kindergarten gegangen zu sein, meint sie. "Und wenn ich dann weiter nicht ausreisen darf, habe ich wenigstens einen Platz, an dem mein Sohn sich sicher fühlt."

Der Kindergarten, den sie und ihr Mann ausgesucht haben, wird von einem Psychologen geleitet, der die Familie bei der Eingewöhnung des kleinen Jungen unterstützt. Das funktioniert offenbar recht gut: Serkan, der noch vor ein paar Wochen nicht einmal die Hand seiner Mutter loslassen wollte, weil er durch die Trennung während ihrer Haftzeit so verstört war, bleibt während des Treffens erstmals zwei Stunden ohne sie im Kindergarten.

Ihrem Sohn sagte sie, Papa sei zur Oma gefahren

Dabei hätte es kürzlich fast einen schweren Rückschlag für seine psychische Heilung gegeben, als die Wohnung der Familie schon wieder von der Polizei gestürmt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte Suat Corlu sieben Wochen nach seiner Haftentlassung wieder zur Festnahme ausgeschrieben, um seine Aussage zu einer ähnlichen Angelegenheit einzuholen - als hätte sie während seiner Haftzeit nicht genug Gelegenheit dazu gehabt, meint Tolu.

Anders als bei der letzten Razzia, als ihr ihr eigenes Kind aus den Armen gerissen wurde, konnten die Eltern dieses Mal die Polizisten überreden, Serkan in Ruhe zu lassen. "Ich bin an seinem Bett sitzen geblieben, damit er nicht aufwacht, während mein Mann abgeführt wurde", erzählt sie. Erst als die Polizisten mit Suat im Hausflur unten waren, lief sie hinaus und rief ihrem Mann nach: "Wir sehen uns wieder!"

Dem Kind erzählte sie am nächsten Morgen, der Papa sei für ein paar Tage zur Oma gefahren. Doch Corlu wurde inzwischen nach Ankara geschafft, wo er acht Tage in Polizeihaft blieb - bis die Staatsanwaltschaft entschied, dass sie ihn doch nicht anhören wolle, und ihn wieder freiließ. Als Corlu herauskam, warteten Mesale Tolu und Serkan schon draußen; der kleine Junge glaubte, er hole den Vater vom Flughafen ab.

Mesale Tolu arbeitet wieder

Dem Kind die Angst zu nehmen, indem sie für ihn da ist, das beansprucht den Großteil der Zeit von Mesale Tolu. Daneben hat sie angefangen, von zu Hause aus wieder zu arbeiten, sowohl für die türkische Agentur Etha, für die sie schon früher geschrieben und übersetzt hatte, als nun auch mit Artikeln über Pressefreiheit für deutsche und österreichische Medien. Das Leben müsse auch während der Prozessdauer weitergehen, sagt Tolu: "Ich kann nicht ständig so leben, als würde ich morgen ausreisen."

Denn ihre Lage ist noch immer ungewiss. Anders als Deniz Yücel und anders als der im Herbst freigelassene deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner wird ihr tatsächlich wegen mutmaßlicher Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer linksextremen Vereinigung der Prozess gemacht. Sie hat sich schon an zwei Verhandlungstagen vor Gericht verteidigen müssen. Und anders als Yücel und Steudtner besteht gegen sie weiterhin Ausreiseverbot. "Ich weiß nicht, was bei ihnen anders ist als bei mir", sagt sie.

(RP)
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