Interview mit Roderich Kiesewetter "Mit Ehrenamt schon früher abschlagsfrei in Rente"

Düsseldorf · Der Präsident des Reservistenverbandes will mehr junge Menschen für freiwilligen Dienst im sozialen Bereich und Katastrophenschutz gewinnen. Im Interview mit unserer Redaktion schlägt Roderich Kiesewetter eine Besserstellung bei der Rente als Anreiz vor.

 Der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter.

Der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter.

Foto: Helmut Michelis

Der Präsident des Reservistenverbandes will mehr junge Menschen für freiwilligen Dienst im sozialen Bereich und Katastrophenschutz gewinnen. Im Interview mit unserer Redaktion schlägt Roderich Kiesewetter eine Besserstellung bei der Rente als Anreiz vor.

Die Zeiten, als 800.000 Männer in Westdeutschland alarmbereit einen olivgrünen Seesack mit Uniform, Stahlhelm und Stiefeln im Schrank liegen hatten, sind allerspätestens mit dem Ende der Wehrpflicht 2010 endgültig Vergangenheit. Reservisten, wozu braucht man die heutzutage eigentlich noch?

Kiesewetter Gerade weil die Wehrpflicht ausgesetzt worden ist, ist es entscheidend, dass die Bundeswehr Fähigkeiten behält, die sie selber nicht vorhalten kann, das ist nun mal die Reserve. Es geht nicht allein darum, die Truppe im Einsatz zu verstärken oder dann in der Heimat von Aufgaben zu entlasten. Neu sind im regionalen Bereich die nur aus Reservisten bestehenden Sicherungs- und Unterstützungskompanien, davon drei in NRW. Sie können zum Wachdienst, aber auch zur Katastrophenhilfe eingesetzt werden. Ab Juli beginnen wir einen Modellversuch, die Bundeswehr im Bereich der allgemeinmilitärischen Ausbildung der Reserve zu entlasten. Und nicht zuletzt sind wir, weil die Streitkräfte so viel kleiner geworden sind, wichtige Mittler in der Öffentlichkeit, zeigen für die Bundeswehr Flagge in den Gebieten, wo keine Truppe mehr ist.

Sie können aber nicht mehr auf jährlich Hunderttausende ausscheidende junge Wehrpflichtige zurückgreifen, wenn es um Mitgliederwerbung geht. Wer meldet sich denn heute noch bei Ihnen? Was tun Sie gegen Überalterung und Mitgliederschwund?

Kiesewetter Da stehen wir nicht allein. Die geburtenschwachen Jahrgänge treffen unsere ganze Gesellschaft mit einer vollen Breitseite. Unsere besondere Leistung ist der Zusammenhalt mehrerer Generationen, jung und alt, die sich durch das gemeinsame Dienen für unser Land verbunden fühlen. Das ist ein Mehrwert, der auch Jüngere anspricht. Ehrenamtliches Engagement ist übrigens in Deutschland im Trend: In Nordrhein-Westfalen ist mehr als jeder Dritte für die Allgemeinheit aktiv. Und unser Angebot ist vielfältig - es reicht von der sicherheitspolitischen Information bis hin zum Engagement für im Einsatz Traumatisierte und Versehrte. Wir scheuen uns auch nicht, öffentlich Position beziehen, zum Beispiel, wenn Jugendoffizieren der Zutritt zu Schulen verweigert wird.

Ehrenamtlicher Einsatz in allen Ehren. Aber muss nicht in einer Berufsarmee Bundeswehr daran gedacht werden, Reservisten auch mit finanziellen Anreizen zu locken?

Kiesewetter Schon jetzt bietet die "Konzeption der Reserve" Chancen, dass Reservisten, die sich zum Beispiel in den Verbindungskommandos zu den Städten und Landkreisen für den Katastrophenfall engagieren, über den geringen Wehrsold hinaus finanzielle Entlastung erhalten. Wir müssen die Unterhaltssicherungsleistungen aber erheblich verbessern. Einberufene Reservisten werden deshalb künftig wie aktive Soldaten bezahlt. Das ist im Koalitionsvertrag festgehalten und fließt gerade in konkrete Gesetzesüberlegungen ein. Wir arbeiten mit dem Verteidigungsministerium auch daran, dass geeignete Reservisten länger als maximal drei Monate im Jahr dienen können. Diese Obergrenze stammt noch aus alten Zeiten der Pflichtwehrübungen und war zum Schutz der Soldaten gedacht. Jetzt, wo der Reservistendienst freiwillig ist, muss es möglich werden, dass jemand unbegrenzt lang eine Wehrübung macht, wenn er Kenntnisse mitbringt, die die Truppe braucht.

Klassische Reservisten, die Wehrdienst geleistet haben, wird es in Deutschland nach dem Ende der Wehrpflicht fast nicht mehr geben. Die verfügbaren Reserven werden also zwangsläufig immer weiter schrumpfen. Erfahrenere Berufsarmeen wie die amerikanische oder britische werben daher Reservisten vor allem im zivilen Bereich an. Ist das ein Weg auch für die Bundeswehr?

Kiesewetter Ja, das könnten wir jetzt schon vorsichtig machen, wollen aber erst noch konkrete Laufbahnen anbieten können. Die Ausbildung von Ungedienten steht bei uns im Verband ganz oben auf der Tagesordnung, weil viele junge Frauen und Männer in der Ausbildung oder im Studium nicht mehr die Möglichkeit haben, die Bundeswehr kennenzulernen. Wo die Voraussetzungen stimmen und wo bei der Truppe Bedarf ist, können Ungediente dann auch Unteroffizier oder Offizier werden, wenn sie die nötigen Voraussetzungen mitbringen. Da wird gerade die Gesetzgebung angepasst.

Glauben Sie denn, dass Unternehmen, deren Personaldecke in der Regel stark geschrumpft ist, Reservisten überhaupt noch für Wehrübungen freistellen?

Kiesewetter Wir wissen, dass viele Firmen inzwischen so stark von der Auftragslage abhängig sind, dass sie sich damit zwangsläufig schwer tun. Deshalb bemühen uns sehr stark um einen Austausch mit der Wirtschaft. Denn für manche Firmen lohnt es sich, Reservisten für einige Tage oder Wochen im Jahr zur Ausbildung in die Bundeswehr geben und sie anschließend höher qualifiziert wieder zurückzunehmen. Ich bin eher ein Anhänger von Anreizen als von Zwang. Wir werden deshalb vorbildliche Betriebe als "Partner der Reserve" besonders auszeichnen. Auch hier gilt doch unser Motto: "Tu was für Dein Land!"

Das reicht aber alles noch nicht, um ehrenamtliche Hilfeleistungen im Katastrophenfall wie bei Hochwasser oder Waldbrand in ausreichender Personalstärke sicherzustellen. Feuerwehren und Technisches Hilfswerk haben ja ähnliche Sorgen, weil die Wehrpflicht weggefallen ist und sich die Arbeitswelt stark verändert hat. Muss per Gesetz eine Art Dienstpflicht für den Katastrophenschutz eingeführt werden?

Kiesewetter Eine Dienstpflicht heißt immer: Sie darf nicht vermeidbar sein und muss für alle gelten. Das würde bedeuten, dass wir für jeweils rund 600.000 junge Frauen und Männer eines Geburtsjahrgangs in Deutschland ein Angebot schaffen müssten. Das wird nicht gehen, ohne Arbeitsplätze zu zerstören oder sinnlose Tätigkeiten zu provozieren.

Wo wollen Sie denn ausreichend Freiwillige herbekommen?

Kiesewetter Es ist richtig: Aufgabenfelder gibt es viele. Dafür wollen wir junge Menschen interessieren, denken Sie nur an den Bereich der Pflege mit rund eineinhalb Millionen mehr Demenzkranken in den nächsten fünf Jahren und zwei Millionen mehr Menschen, die über 80 Jahre alt sind, um die man sich kümmern muss. Wir beabsichtigen deshalb, den Bundefreiwilligendienst, zurzeit etwa 70.000 Stellen, und das freiwillige soziale Jahr, zurzeit etwa 40.000 Teilnehmer, deutlich auszuweiten. Wir wollen junge Leute in der halben Größenordnung eines Geburtsjahrgangs, also bis zu 300.000, dafür interessieren, einen solchen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten. Das ist im Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch bei den Feuerwehren, dem Technischen Hilfswerk und bei der Bundeswehr denkbar.

Wie wollen Sie das denn schmackhaft machen?

Kiesewetter Es geht nur mit Anreizen: Die jungen Leute sollen sich, weg von Zuhause, selbst finden können und müssen das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Pflege- und sogenannte Blaulicht-Organisationen wie Rettungsdienste, THW oder Bundeswehr wären als Wahlangebot gleichrangig zu kombinieren. Ich könnte mir sogar eine europäische Initiative vorstellen: im Rahmen eines Europa-Jahrs, in dem sich junge Menschen international für gemeinsame Ziele einsetzen. Vor 50 Jahren haben wir gemeinsam die Schranken an den Ländergrenzen niedergerissen, heute könnte man gemeinsam Dienst leisten.

Reicht dieser ideelle Ansatz als attraktives Angebot aus?

Kiesewetter Wir denken an eine Anrechnung dieser Einsätze bei Studien- und Lehrzeiten. Noch attraktiver und für die Gesellschaft nicht so teuer ist es, dieses Engagement von der Lebensarbeitszeit abzuziehen. Wer ehrenamtlichen Dienst für die Gemeinschaft leistet, soll um diese Zeit früher abschlagsfrei in Rente gehen können. Diese Aufwertung der Wehrübungen und THW- und Feuerwehrdienstleistungen wird verstärkt Menschen ins Ehrenamt bringen. Wir arbeiten an solchen Plänen.

Glauben Sie, damit ausreichend breite Wirkung erzielen zu können?

Kiesewetter Auch als Bundestagsabgeordneter ist das für mich ein Thema, was mich umtreibt: Etwa die Hälfte der Zehnjährigen in unserem Land hat einen Migrationshintergrund. Die Kinder kommen aus Ländern, wo Rettungs- und Hilfsdienste, Militär und Pflege staatlich organisiert sind. Sie fragen sich natürlich: Warum soll ich mich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren? Ich möchte eine Spaltung der Gesellschaft vermeiden. Das könnten wir doch wunderbar schaffen, wenn man die heute Zehnjährigen für den Dienst am Mitmenschen begeistert, wenn sie sagen: "Ja, das ist unser Land, wir tun was dafür." Wenn uns das gelingt, dann können wir auch den demografischen Wandel überwinden. Und wir haben etwas für die Sicherheit und den Schutz Deutschlands getan.

Die wenigsten interessieren sich aber für solche Zusammenhänge. Verteidigung ist doch scheinbar gar nicht mehr nötig ...

Kiesewetter Das stimmt leider. Was wir deshalb dringend brauchen, ist eine intensive gesellschaftspolitische Debatte über Bedrohungen und Herausforderungen. Wenn sich der Bundestag nur einmal im Jahr über Parteigrenzen hinweg im Rahmen einer Regierungserklärung mit der äußeren und inneren Sicherheit der Bundesrepublik befassen würde, wäre schon viel erreicht. Abgeordnete — ob sie dafür oder dagegen gestimmt haben — sollten anschließend in ihre Wahlkreise gehen und mit den Kirchen, den Gewerkschaften und anderen wichtigen Gruppen diskutieren. Die Gesellschaft muss sensibilisiert werden für die Probleme, die die Globalisierung mit sich bringt.

Also mehr deutsche Militäreinsätze in aller Welt?

Kiesewetter Wir sind ein wesentlicher Truppensteller für EU, Nato und Vereinte Nationen. Sicherheitspolitisches Engagement betrifft aber ein viel weiteres Spektrum. Wir sollten hier das deutsche Engagement der Bevölkerung und unseren Partnern umfassender erklären. Dazu gehört der Hinweis, wie stark wir weltweit zivil engagiert sind - etwa im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Was Militäreinsätze angeht: Solche Einsätze sind keine Lösung, wenn sie nicht eingebettet sind in ein zivil-militärisches Gesamtkonzept.

Wie heißt das konkret?

Kiesewetter Wir sind bereit, im Ernstfall militärisch zu unterstützen, aber dazu gehören ein klares Einstiegs- und ein klares Ausstiegsszenario, also deutliche formulierte Ziele und auch eine Strategie, für den Fall, dass solch ein Einsatz scheitert. Dazu gehört außerdem die Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern, die Lage nicht zu beschönigen. Das ist eine bittere Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz.

Helmut Michelis führte das Interview.

(mic)
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