Debatte um neue Unterschicht Müntefering: "Es gibt keine Schichten in Deutschland"

Berlin (rpo). Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) hat sich in der Debatte um die "neue Armut" in Deutschland gegen die Verwendung des Begriffs "Unterschicht" gewandt. "Es gibt keine Schichten in Deutschland", erklärte Müntefering am Montag im Sender N24. "Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben." Er wehre sich aber gegen ihre Einteilung in der Gesellschaft.

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Auch SPD-Generalsekretär Hubertus Heil wandte sich gegen den Begriff der "Unterschicht". Es dürfe nicht zugelassen werden, dass Menschen stigmatisiert würden. Gleichzeitig verteidigte er die von der rot-grünen Vorgängerregierung auf den Weg gebrachten Hartz-IV-Reformen als "richtig und notwendig".

Eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung hatte zuvor alarmierende Zahlen geliefert. Angeblich sind in Deutschland 6,5 Millionen Menschen einer neuen Unterschicht zuzurechnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, sie werde sich "nicht damit abfinden, diese Spaltung der Gesellschaft zu akzeptieren". Doch wie gespalten in Deutschland wirklich? Und wer ist schuld?

Merkel fordert Chancengleichheit

Ziel der Koalition sei es, die Grundlagen zu schaffen, dass "Kinder von Anfang an ihre Chance bekommen", betonte die Kanzlerin. Ein wichtiger Punkt sei dabei, den Kindern schon beim Eintritt in die Schule "ähnliche Chancen" einzuräumen und dafür die frühkindliche Förderung zu verbessern.

Auch müsse die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder gestärkt werden, sagte Merkel weiter. Daher werde die Bundesregierung prüfen, inwieweit der Staat in bestimmten Fällen helfen könne oder sogar helfen müsse.

Vorwürfe an Schröder

Der SPD-Linke Ottmar Schreiner warf der eigenen Partei vor, schuld an der Entwicklung zu sein. "Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht über uns gekommen, sie sind das Ergebnis der Politik von Gerhard Schröder", sagte der SPD-Linke dem "Tagesspiegel am Sonntag" und kritisierte vor allem die Hartz-IV-Gesetze. Diese hätten dazu geführt, dass "Millionen Menschen keine Chance mehr haben, aus dem Niedriglohnsektor mit seinen Hungerlöhnen herauszufinden". Er sei froh, dass seine Partei "endlich erkannt habe, dass es in Deutschland eine ganze Schicht gibt, die verarmt und keinerlei Hoffnung mehr hat, aus eigener Kraft aus ihrer Situation herauszukommen".

SPD-Fraktionsvize Hilsberg sagte dem "Tagesspiegel": "Wir haben den Menschen vorgegaukelt, dass mit Fordern und Fördern jeder den ersten Arbeitsmarkt erreichen kann." Für Millionen Menschen sei das jedoch nicht die Realität. "Gerhard Schröder hat zu kurz gedacht", sagte Hilsberg. SPD-Fraktionsvorstandsmitglied Klaus Brandner sagte, es gebe "sehr viele Menschen in Deutschland ohne Chance auf sozialen Aufstieg".

SPD-Fraktionsvize Joachim Poß widersprach dem SPD-Linken Ottmar Schreiner, Armut und soziale Ausgrenzung seien Ergebnisse der Politik von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Die zentrale Thematik der Arbeitsmarktreformen, das Fördern und Fordern, sei richtig gewesen, sagte Poß. Der Politikwissenschaftler Tobias Dürr betonte, wenn schon Schulkinder sagten: "Ich werde 'Hartz IV' wie meine Eltern. Das reicht mir", sei das verheerend. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel und der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sehen die SPD ebenfalls in der Mitverantwortung für die sozialen Probleme.

Laut Studie gehören der gesellschaftlichen Unterschicht acht Prozent der Bevölkerung oder 6,5 Millionen Menschen an. Ihr sind den Wissenschaftlern zufolge 20 Prozent der Ost- und 4 Prozent der Westdeutschen zuzurechnen.

Wie Poß ging auch der Sprecher der Parlamentarischen Linken, Ernst Dieter Rossmann, zu Schreiner auf Distanz. "Es gab ein gemischtes Bild in der rot-grünen Regierungszeit", sagte er. Die Schröder-Regierung habe sich schließlich mit dem ersten Armutsbericht diesem Thema gestellt. Die Bildungsförderung etwa durch das Ganztagsschulprogramm habe die Chancengleichheit verbessert. Auch seien die "Hartz"-Reformen besser als ihr Ruf.

Dagegen sieht Dürr auch die Sozialdemokraten in der Verantwortung für das Entstehen der neuen Unterschicht. "Die Politik muss sich eingestehen, dass sie in dieser Frage versagt hat", sagte er. Während Wissenschaft und Publizistik sich schon lange mit dem Thema Unterschicht beschäftigten, nähere sich die Mainstream-Politik erst langsam dem Problem. Immer weniger Menschen erlebten, dass Arbeitsleistung sozialen Aufstieg ermögliche. "Bleibt dies so, droht eine Negativspirale nach unten", sagte Dürr, der auch Chefredakteur der Zeitschrift "Berliner Republik" ist, dem Sprachrohr des reformorientierten SPD-Netzwerks.

Unterdessen werden erste Forderungen nach Konsequenzen der Studie laut. Saarlands SPD-Chef Heiko Maas sagte: "Gerade in den sozialen Randbezirken der Städte muss der Staat mit Ganztagsschulen, Nachhilfeangeboten und Kinderbetreuung ein kostenloses Angebot schaffen, das vom Elternhaus offenkundig nicht mehr gewährleistet werden kann". Ziel müsse es sein, keinen Jugendlichen mehr ohne Abschluss aus der Schule zu entlassen.

Kauder weist auf Fehler in der Vergangenheit hin

Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) setzte sich ebenfalls für "konkrete Hilfen" besonders für Kinder, Jugendliche und Arbeitslose ein. Kauder betonte, das Phänomen gebe es seit etwa zehn Jahren als Folge der Massenarbeitslosigkeit, die Politik habe es jedoch unzureichend wahrgenommen.

Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, forderte mehr Bildung. In den vergangenen Jahren seien viele Fehler gemacht worden, die zu einer "vererbten Bildungsarmut" geführt hätten.

Für FDP-Generalsekretär Niebel ist die Angst vor Verarmung breiter Schichten ebenfalls ein Ergebnis der "Hartz"-Reformen. Zugleich fordert er, Sanktionsmöglichkeiten gegen Arbeitsunwillige konsequenter als bisher auszuschöpfen. Eine generelle Kürzung der Leistungen aber lehne er ab.

Der frühere CDU-Generalsekretär Geißler forderte seine Partei auf, sich "zum Anwalt der Abgehängten und Resignierten zu machen". Die weit verbreitete Hoffnungslosigkeit sei "die Folge von 'Agenda 2010' - einer SPD-Politik, mit der die Seele der Partei verraten wurde".

(afp)
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