Als Reaktion auf NSU-Pannen Neue Neonazi-Datei startet

Berlin · Schon im vergangenen Dezember hätte die Berliner Innenbehörde entdecken können, dass es im Jahr 2002 Hinweise auf den Aufenthaltsort der Rechtsterroristen gab. Weitere Aufklärungs-Pannen zeichnen sich ab. Heute startet die neue Neonazi-Datei.

Urlaubsbilder der Nazi-Terrorzelle
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Nervös nippt er in immer kürzeren Abständen an seiner Cola, verlegen kratzt er sich am Hals, und bald muss er sich den Schweiß von der Stirn wischen. So sehen Politiker aus, die zwar lange nach der Mordserie der Neonazi-Terrorzelle ins Amt gekommen sind, nun aber in den Strudel von Aufklärungspannen geraten.

So wie Innensenator Frank Henkel (CDU) gestern in einer Sondersitzung des Berliner Innenausschusses. Was er und seine Vize-Polizeichefin beichten müssen, lässt Brisantes erahnen: dass die Behörden viel näher dran waren an den Terroristen vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und dass die Serie von bekannt werdenden Skandalen und Fehlern noch lange nicht vorbei ist.

Henkel weiß, dass nur noch ein Schuldeingeständnis hilft: Am 9. März hat er erfahren, dass ein V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes in der Zeit der NSU-Morde mehrfach einschlägige Hinweise gegeben hat. Aber der zuständige Untersuchungsausschuss des Bundestages hat erst jetzt davon erfahren.

Dem Generalbundesanwalt verpflichtet gefühlt

Er habe sich dem Generalbundesanwalt verpflichtet gefühlt, versucht Henkel zu erläutern. Der habe im März diese Information unter der Decke halten wollen, damit keine anderen Tatverdächtigen gewarnt würden. Heute gewichtet Henkel den Vorgang neu. Er hätte damals schon Wege finden müssen, auch den Ausschuss vertraulich zu informieren.

Damit ist für die Berliner CDU die Sache erledigt. Nicht für die Opposition, die "Skandal" ruft, eine "Komplizenschaft der Sicherheitsbehörden" wittert und Henkel vorwirft, das Parlament belogen zu haben. Dabei bleibt in den ersten Fragerunden der Politiker ein kleines Detail kaum beachtet, das symptomatisch ist für die anhaltenden Schlampereien.

Berlins Vize-Polizeichefin Margarete Koppers hat nämlich beiläufig eingeräumt, dass die Fahnder von BKA und Bundesanwaltschaft schon am 14. Dezember 2011 und am 13. Januar 2012 nach Erkenntnissen über den Berliner V-Mann gefragt hatten. Thomas S. stand auf einer Liste möglicher Helfer oder Mittäter der NSU. Die Berliner fanden in ihren Unterlagen nichts. Am 7. März nahm das BKA einen neuen Anlauf und bat zudem darum, auch die Dienststellen zu "sensibilisieren", die die V-Leute führen. Und erst jetzt, als die Behörde das tat, worauf sie schon Monate früher hätte kommen können, konnte Koppers einen "Treffer" melden.

Eindeutig das NSU-Trio

Danach plauderte Thomas S. bereits im Jahr 2002 über einen Waffenhändler Jan W., der wisse auch von untergetauchten Rechtsextremisten, die wegen Sprengstoffdelikten per Haftbefehl gesucht würden. Eindeutig also das NSU-Trio. Was Koppers wegen des zugesagten Schutzes für den V-Mann nicht sagte: S. selbst soll ein Verhältnis mit Beate Zschäpe gehabt haben, bevor die mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Untergrund verschwand.

Hätten die Fahnder mit diesen Berliner LKA-Erkenntnissen also schon 2002 die Terroristen fassen und sechs weitere Morde verhindern können? Noch weiß Henkel nicht, ob und an wen damals die Informationen weiter gegeben wurden. Aber er will weiter nicht ausschließen, dass Böhnhardt und Mundlos weitere Mittäter oder Unterstützer hatten.

Welches Ausmaß an potenziellen Skandalen da noch schlummert, macht der Umstand deutlich, dass von 16 Bundesländern zehn noch nicht auf die Anfragen des Untersuchungsausschusses reagierten. Dass da noch einiges zu heben ist, wurde auch bei den plötzlich über den Umweg über Landesbehörden offenbar gewordenen Kontakten des Militärischen Abschirmdienstes mit Mundlos klar.

Neonazi-Datei nimmt Arbeit auf

Die aus dem Verborgenen mordenden Terroristen waren allen Schredderversuchen des Verfassungsschutzes zum Trotz also alles andere als unbeschriebene Blätter. Die Behörden kannten sie, sie wussten von ihrer Gefährlichkeit. Aber sie brachten sie nicht in Verbindung mit der Mordserie an Immigranten.

Auch deshalb will Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) heute die neue Rechtsextremismusdatei in Gang bringen. "Eine der wichtigsten Lehren aus den Fehlern und Versäumnissen im Zusammenhang mit dem NSU ist es, die Zusammenarbeit und Kommunikation zu verbessern", sagte Friedrich unserer Zeitung. Erkenntnisse müssten dorthin fließen, wo sie gebraucht werden, das leiste die neue Datei. "Aus einzelnen Mosaiksteinen wird jetzt ein Gesamtbild", betonte Friedrich.

Die Datei werde zu mehr Kommunikation unter den Sicherheitsbehörden führen. 20 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes starte bereits die erste Ausbaustufe. "Das zeigt: Wir führen den Kampf gegen Rechtsextremismus intensiv und entschlossen", so Friedrich.

(may-)
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