Analyse Ohne Gysi nur noch links

Bielefeld · Bundesweit steht die Linke stabil bei zehn Prozent, im Osten stellt sie den ersten Ministerpräsidenten, auch im Westen feiert sie Wahlerfolge. Warum sie nun Deutschland regieren soll - aber nicht will.

Fotos: Das ist Gregor Gysi – der Star der Linken
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Das ist Gregor Gysi

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Ausgerechnet! Ausgerechnet in Bielefeld geht Gregor Gysis große letzte Rede vor einem Linken-Parteitag über die Bühne. Es ist jene Bühne, auf der Joschka Fischer von dem legendären Farbbeutel getroffen wurde. Weil er als Außenminister des rot-grünen Regierungsexperimentes eine pazifistische Partei in den Kosovo-Krieg zwang. So wie die Grünen wollen die Linken nie werden. Und doch versucht Gysi, seiner Partei den Weg der Grünen schmackhaft zu machen. Sein mit großem Spannungsbogen vorbereiteter Abtritt wird zum Auftakt, die Linke auf Regierungskurs zu bringen.

Wie schwer das zwei Jahre vor den nächsten turnusmäßigen Bundestagswahlen ist, hat die Reaktion auf die kurze, knallharte Rede von Sahra Wagenknecht am Vortag gezeigt. Dass die Ehefrau von Linken-Mitschöpfer Oskar Lafontaine im Herbst Gysis Nachfolgerin werden soll, pfeifen die Spatzen von den Fraktionsdächern. Dietmar Bartsch, der andere Fraktionsvize, soll ihr an die Seite gestellt werden. Aber wenn es um die Gabe geht, mit Worten aufzupeitschen, telegen in die Offensive zu kommen, dann kann eher Wagenknecht Gysi das Wasser reichen.

Jubelnder Applaus war die Antwort des Parteitages auf Wagenknechts flammende Absage an Rot-Rot-Grün. Für die Vorstellung, zusammen mit SPD und Grünen zu regieren, prägte sie das Bild vom "Mitschwimmen in trüber Brühe". Das sitzt. Das kultiviert den Ekel vor Kompromissen, vor Abweichungen von der reinen sozialistischen Lehre. Parteichefin Katja Kipping hat am Vortag schon versucht, den Spielraum zu vergrößern, auf die Möglichkeiten verwiesen, die die Linke jetzt in Thüringen hat, wo sie mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt. Und sie hat versucht, als Zukunftsziel der Linken den Begriff "Sozialismus 2.0" zu etablieren. Auch dafür bekam sie Beifall. Wenn auch nur sehr verhalten.

Und nun eine Zukunft ohne Gysi. Er hat den Versuch von Wagenknecht, als gleichberechtigte Co-Vorsitzende an seine Seite zu rücken, beharrlich abgewehrt. Weil sie sich auf Oppositionsbarrikaden wohler fühlt als auf Regierungsbänken. Deshalb war von vielen mehr gewünscht als erwartet worden, dass der 67-Jährige es noch einmal wissen will.

Tatsächlich hatte Wagenknecht bereits aufgegeben und ihre Kandidatur für den Fraktionsvorsitz nach einer Abstimmungsniederlage im innerparteilichen Ringen um die Griechenlandhilfe offiziell einkassiert. Doch in Bielefeld prägt das Wort "letztmalig" schon den ersten Satz von Gysis Rede. Und aus dem Wagenknecht-Lager ist schon vor dieser Formulierung zu hören, dass sie nun den Rückzug vom Rückzug vorbereitet.

Sahra Wagenknecht – ein Porträt in Bildern
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Sein politisches Vermächtnis hat Gysi ohne Schnörkel aufgeschrieben. Von seinem Manuskript weicht er kaum ab. Jedes Wort ist Teil jener Komposition, die auf die zentrale Aussage zuläuft: "Wir können und sollten auch auf Bundesebene regieren wollen, und zwar selbstbewusst, mit Kompromissen, aber ohne falsche Zugeständnisse." Dafür will er die "Bereitschaft" in seiner Partei "erhöhen".

Ohne Anlauf geht er gleich auf das zu, was SPD und Grüne als größtes Hindernis für ein Linksbündnis ansehen: die Rolle der Bundeswehr. O-Ton Gysi: "Selbst wenn wir nicht jeden Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland zurück beordert bekämen, aber es schafften, dass sich Deutschland an Kriegen wie gegen Jugoslawien, gegen Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen, bei allen Kampfeinsätzen auf keinen Fall während unserer Regierungsmitverantwortung beteiligte - welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies!"

Litaneiartig wiederholt er diese "gewaltige-Fortschritt"-Formulierung durch das breite Themenfeld, von Waffenexporten über Griechenlandaufbauprogramme, von Russland in Europa über Anti-Spionage bis hin zu Leiharbeit, "kalter Progression", Rente, Pflege und Homo-Ehe.

Partei rückt weiter nach links

Strategisch strapaziert Gysi die Genossen mit der Empfehlung, ein "Bündnis mit dem Mittelstand" anzustreben. Dahinter steckt offensichtlich die Überlegung, dass das linke Bündnis in Deutschland nur kommt, wenn die Gesellschaft es erwartet. Deshalb vergisst Gysi auch nicht den Hinweis, dass "90 Prozent unserer Wählerschaft wünscht, dass wir Regierungsverantwortung" übernehmen.

Aber das hat die Linken auch in Bielefeld nicht abgehalten, ihre linke Programmatik noch weiter nach links und damit außerhalb realistischer Verwirklichung zu verschieben. Vergeblich warnte ein Gewerkschafter die Genossen, im Leitantrag aus der Vorstandsformulierung zur Leiharbeit aus dem "stoppen" ein "abschaffen" zu machen. "Wir sollten uns die Diskussion in den Betrieben ersparen, dass wir die Arbeitsplätze der Kollegen abschaffen wollen", lautete die Warnung. Egal, überstimmt. Genauso erging es den Mahnern, die die Forderung abwenden wollten, wonach der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro steuerfrei gestellt werden soll. "Wenn wir das beschließen, fehlen 30 Milliarden." Egal, überstimmt. Der linke Reflex lebt, lieber ins Wolkenkuckucksheim als in die Regierungsverantwortung zu wollen.

Gysi entlarvt zwar die Suche der Linken nach immer neuen "Haltelinien" als Trick, den Ball einer Absage ans gemeinsame Regieren SPD und Grünen zuzuschieben, denen die jeweiligen zementierten Positionen der Linken zu weit gehen. Aber wer soll sie davon abhalten, wenn Gysi Mitte Oktober abtritt?

"Die Linkspartei wird es ohne ihn sehr schwer haben, sich auf der Bundesebene von der Fundamentalopposition hin zu einem potenziellen Koalitionspartner zu entwickeln", sagt SPD-Parteivize Ralf Stegner unserer Redaktion. Gysi sei "einer der klügsten Kollegen aus den Konkurrenzparteien".

Und deshalb ist nicht in Sicht, wer bei Rot-Rot-Grün die Rolle Fischers auf dem Weg zu Rot-Grün mit Erfolgsaussicht übernehmen könnte. Wenn es am Ende nicht doch Gysi selbst aus dem Off tut.

(may-)
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