Analyse Parteimitglieder ersetzen Wähler

Berlin · Mitgliederentscheide sollen für größere Legitimierung sorgen, so für die große Koalition im Bund, für die Wowereit-Nachfolge in Berlin und jetzt auch wieder für den ersten mit SPD-Stimmen gewählten Linken-Regierungschef. Doch das Manöver ist fragwürdig.

Wahl in Thüringen: Entsetzen bei SPD und FDP
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Wahl in Thüringen: Entsetzen bei SPD und FDP

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65 Jahre lang ist diese Republik gut gefahren mit der repräsentativen Demokratie. Nun werden die Entscheidungsmechanismen immer häufiger um Mitgliederentscheide ergänzt. Nicht 44 Millionen Wähler entschieden 2013 über die große Koalition, sondern 0,57 Prozent von ihnen. Nicht 3,4 Millionen Berliner kürten den neuen Regierenden Bürgermeister, sondern 0,18 Prozent von ihnen. Und nun kommt es auch nicht auf 2,2 Millionen Thüringer an, sondern auf 0,02 Prozent von ihnen. Ist das Basis-Beteiligung und eine Bereicherung der Demokratie oder eher die Gefahr ihrer Aushöhlung?

Kaum etwas prägt die Demokratie so stark wie das faire Wahlrecht. Nur wenn jede Stimme gleich viel wert ist, können alle hinterher auch das Ergebnis akzeptieren. Dieser Grundsatz ist bei den Wahlen in Deutschland nach wie vor gewahrt. Doch was danach mit den Stimmen geschieht, wirft Probleme auf.

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Foto: dpa, mic pzi

Denn auf 315.104 Menschen kommt es nun in Thüringen nicht mehr an. Sie haben die CDU gewählt. Auch nicht auf 116.889 Wähler, die sich für die SPD entschieden haben. Das Schicksal des Landes liegt in der Hand von 451 SPD-Mitgliedern. Damit der Mitgliederentscheid gültig ist, muss ein Quorum von 20 Prozent der 4500 Mitglieder erreicht werden, das sind also 900. Und wenn davon mindestens die Hälfte (also 451) mit Ja votiert, geht die SPD das Bündnis mit Linken und Grünen ein und wählt zum 25. Jahrestag des Mauerfalls einen Politiker der SED-Nachfolgepartei zum Ministerpräsidenten.

Dagegen wird Protest laut, und insofern taugt das Mittel des Mitgliederentscheids prinzipiell für Korrekturen. Die Thüringer mit SPD-Parteibuch haben es jetzt tatsächlich in der Hand, die Koalition als Chance oder Sündenfall zu brandmarken.

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Foto: dpa/Michael Kappeler

Doch warum sind 4500 SPD-Mitglieder gefragt? Wäre es nicht interessant, auch die Meinung von 116.889 SPD-Wählern zu hören, oder die von 78.474 Thüringern, die der SPD gegenüber der vorangegangenen Wahl den Rücken kehrten — weil sie fürchteten, dass es auf Rot-Rot-Grün hinauslaufen könnte? Das wäre ein Umstand, den der SPD-Landesvorstand zu verantworten hätte, und damit kommt ein ganz entscheidender Umstand hinzu. Repräsentative Demokratie hat immer mit dem Sichtbarmachen von Verantwortung zu tun. Wenn der Kurs krachend falsch ist, muss ein Landesvorstand die Konsequenzen tragen und zurücktreten. Wenn also Rot-Rot-Grün instabil ist und Thüringen herunterwirtschaftet - treten dann die SPD-Mitglieder von ihren Parteibüchern zurück?

Vermutlich werden sie sich dann darüber beklagen, dass sie sich von ihrem Landesvorstand nicht ausreichend informiert fühlten. Denn ob die Unterlagen für den Mitgliederentscheid das Ergebnis der Sondierungen mit der CDU objektiv widerspiegeln oder nur eine solche Darstellung enthalten, die das gewünschte Ergebnis wahrscheinlicher macht, lässt sich schwer nachprüfen. Es kommt also darauf an, dass die Mitglieder ihrer Führung vertrauen. Dann könnten sie sich aber auch den Entscheid sparen, da die Empfehlung ja ohnehin einstimmig erfolgte.

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Die Auswahl des politischen Führungspersonals geschieht immer im Zusammenhang mit den anstehenden Herausforderungen. Wenn ein Vorstand dann aber die Verantwortung auf die Mitglieder schiebt und seine Entscheidung "legitimieren" lassen will, dann müsste konsequenterweise nach jedem Parteitag das Ergebnis der Delegiertenwahlen auch von einem Mitgliederentscheid bestätigt werden, bevor die neue Führung ans Werk gehen darf.

Der Mitgliederentscheid hat überall dort seine ureigene Berechtigung, wo es um die Auswahl von Kandidaten geht, die dann dem Volk vorgeschlagen werden sollen. Die SPD hat damit schlechte Erfahrungen gemacht; die auf diese Weise gekürten Persönlichkeiten unterlagen zumeist. Wenn aber diese "Legitimierung" nicht auf die Gesamtbestätigung durch das Volk hoffen darf, warum soll dann die nachträgliche Korrektur einer Wählerentscheidung durch einen Mitgliederentscheid die bessere demokratische Übung sein?

Oder konkret: 2,4 Millionen waren 2011 aufgerufen, über Klaus Wowereit oder Frank Henkel als neuen Regierungschef zu entscheiden. Nun reichten ganze 6353, um seinen Nachfolger zu küren. Ihr Votum hat also 377 Mal mehr Gewicht als das jedes anderen Wahlberechtigten. Und das soll für mehr Teilhabegerechtigkeit in der Demokratie stehen? Die Gefahr einer Aushöhlung ist die zutreffendere Beschreibung.

(may-)
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