Pendeln steuerlich gefördert Niemand traut sich an die Pendlerpauschale

Berlin · 60 Prozent aller Arbeitnehmer gehören bundesweit zu den Berufspendlern. Stau gehört daher zum Alltag, gerade in NRW. Anders als Politiker meinen Mobilitätsforscher: Das sollte der Staat nicht auch noch steuerlich fördern.

 Stau auf der A3 bei Duisburg. (Archivbild)

Stau auf der A3 bei Duisburg. (Archivbild)

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Globalisierung hat mitunter bizarre Folgen. In München arbeiten 23 Chinesen, die regelmäßig zur Arbeit pendeln - aber nicht etwa aus dem Umland, sondern aus der Heimat in Fernost. Die Asiaten sind nur vorübergehend an der Isar tätig, auf einen dauerhaften Wohnsitz dort verzichten sie.

Pendlerpauschale: Sollte Pendeln steuerlich gefördert werden?
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Berufspendler in Deutschland haben es nicht ganz so weit, doch viele legen trotzdem immer längere Strecken zurück. Der durchschnittliche Weg zur Arbeit ist von 2000 bis 2015 um 2,2 auf 16,8 Kilometer gewachsen, hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung auf Basis von Daten der Bundesagentur für Arbeit errechnet. Die Zahl der Berufspendler stieg bundesweit noch deutlicher - von 53 auf 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Die meisten Pendler gibt es der Auswertung zufolge in München, Frankfurt am Main und Hamburg. Auf Platz vier folgt Berlin, wo die Zahl der Pendler seit 2000 um drastische 53 Prozent gestiegen ist.

Die NRW-Städte Köln und Düsseldorf folgen auf den Plätzen fünf und sechs in der Rangfolge der größten Pendler-Metropolen. Aber auch jenseits der beiden größten Städte gehört der Stau zum Berufsalltag für die Arbeitnehmer im dicht besiedelten, bevölkerungsreichen Westen der Republik. Denn in NRW kreuzen sich auch noch die Routen des Lkw-Fernverkehrs, der Europas größten Seehafen Rotterdam ansteuert. "Der ganze europäische Fernverkehr landet in NRW", sagt Thomas Puls vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Pendelei und Staus tun jedoch weder den Menschen noch der Umwelt gut. Untersuchungen zeigten, "dass tägliche Pendelmobilität die körperliche und psychische Gesundheit der Erwerbstätigen gefährden kann", sagt Simon Pfaff vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Mannheim. So geht es auch der Umwelt. In vielen Städten werden die zulässigen EU-Stickoxidwerte überschritten, die Kommunen denken über Fahrverbote nach. 18 Prozent des deutschen CO2-Ausstoßes entfallen auf den Verkehrssektor, dessen Anteil in den letzten Jahren kaum gesunken ist.

Mobilitätsforscher wie der Berliner Stephan Rammler fordern auch deshalb, dass der Staat das Pendeln nicht noch steuerlich fördern soll. Die Pendlerpauschale von 30 Cent pro Kilometer, die Arbeitnehmer für den Weg vom Wohn- zum Arbeitsort als Werbungskosten absetzen können, gehöre schrittweise abgeschafft. Die Pauschale bekommt zwar jeder, unabhängig davon, mit welchem Verkehrsmittel er sich bewegt. Doch Autofahrer profitieren davon stärker als Rad- oder Bahnfahrer, weil sie oft längere Strecken nachweisen können. Der Staat könne das viele Pendeln nicht unterbinden, denn es habe viele andere Ursachen als nur den Steuervorteil, sagt Rammler: "Was er aber tun kann, ist, falsche Anreize zu lassen, die Pendlerpauschale wieder abzuschaffen."

Kein Politiker, nicht mal ein Grüner, wagt es heute, so etwas zu sagen. Alle Anfragen unserer Redaktion blieben jedenfalls erfolglos. Die Pendlerpauschale ist ein Heiligtum, wenn die Mehrheit der Arbeitnehmer davon profitiert. Es ist ein wahlentscheidendes Thema. Umso riskanter wären Forderungen nach einer Abschaffung. Zumal die Befürworter sich auf Auffassungen berufen können, die schon im frühen 20. Jahrhundert die Steuerdebatte prägten: Wer nicht zu seinem Arbeitsort komme, verdiene überhaupt kein Geld, also müsse der Aufwand für die Fahrt zum Betrieb auch gegengerechnet werden können. Bei Umfragen werden stets hohe Zustimmungswerte garantiert. Als etwa der Steuerzahlerbund 2011 auf gestiegene Spritpreise mit der Forderung nach einer höheren Pendlerpauschale reagierte, konnte er sich auf 93 Prozent Zustimmung berufen.

Das Bundesverfassungsgericht unterstützte diese Sicht. Als der Gesetzgeber 2007 die Pauschale nur noch für Entfernungen ab dem 21. Kilometer zuließ, erzwang das höchste deutsche Gericht die Rückkehr zur generellen Anerkennung. Dafür fuhren die Richter schweres Geschütz auf. Sie nahmen das Gleichheitsgebot und entschieden, dass Berufsaufwendungen von abhängig Beschäftigten nicht anders behandelt werden dürften als die von Selbstständigen. Sie griffen zum Sozialstaatsgebot, weil wegen des Wegfalls der Entfernungspauschale Geringverdiener dann noch faktisch unter dem Existenzminimum besteuert wurden. Und sie bemühten sogar den staatlichen Schutz von Ehe und Familie.

Die Pendlerpauschale, sagt IW-Forscher Puls, sei für Pendler "ein nettes Zubrot, aber die Grundentscheidung zu pendeln hängt von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wo der Partner wohnt und arbeitet". Tatsächlich nennen Mobilitätsexperten eine Fülle von Gründen, warum das Pendeln so stark zugenommen hat: In Partnerschaften haben zunehmend beide einen Job, das verringert die Flexibilität von Paaren bei der Wohnort-Auswahl. Der Wohnraum in den Ballungsräumen ist für viele schlicht zu teuer geworden, sie flüchten ins preiswertere Umland und müssen in die Stadt pendeln. Befristete Jobs und flexiblere Einsatzorte führen dazu, dass der Wohn- dem Arbeitsort oft nicht mehr folgt. Auch die geringen Benzinpreise haben dazu geführt, dass Pendler wieder lieber ins Auto steigen.

Verkehrsprognosen verheißen nichts Gutes. Der innerstädtische Lieferverkehr wird demnach wegen des florierenden Online-Handels weiter deutlich zunehmen. Viele Lösungswege werden diskutiert. E-Bikes und Lastenfahrräder könnten etwa Straßen entlasten. Oder mehr Home-Office-Lösungen und flexiblere Bürozeiten helfen, die Rushhour zu entzerren, schlägt Puls vor. Am Ende aber wird die Debatte über die Pendlerpauschale nicht totzukriegen sein: Sie könnte bald einfach nicht mehr in eine Zeit passen, in der der Klimawandel zunehmend Lebensgrundlagen zerstört.

(mar / may-)
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