Terrorismus-Experte Peter Neumann "Wir müssen uns an diese Bedrohung gewöhnen"

Düsseldorf/London · Nach den Anschlägen von Paris breitet sich in Europa ein Gefühl der Machtlosigkeit aus. "Machtlos sind wir nicht", widerspricht Terrorimus-Experte Peter Neumann. Im Interview vergleicht der Politikwissenschaftler islamistische Terroristen mit Neonazis, kritisiert die mangelhafte Terror-Prävention und fordert eine starke europäische Gemeinschaft.

 Peter Neumann ist weltweit einer der wichtigsten Experten für islamistischen Terrorismus.

Peter Neumann ist weltweit einer der wichtigsten Experten für islamistischen Terrorismus.

Foto: Peter Neumann

Herr Neumann, mindestens 132 Menschen sind bei den Anschlägen von Paris ums Leben gekommen. Sind wir wirklich so machtlos gegen diesen islamistischen Terror?

Neumann Machtlos sind wir nicht. Es ist ja genau der Zweck des Terrors, uns ein Gefühl der Machtlosigkeit zu geben. Leute sollen das Gefühl bekommen: Es hätte mich treffen können und es kann jederzeit passieren. Deswegen ist die wichtigste Antwort darauf, einfach weiterhin eine normale und selbstbewusste Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Was konkret den Anschlag in Paris betrifft, sind wohl einige Fehler passiert.

Welche Fehler?

Neumann Man wird sich genau anschauen müssen, warum dieser Anschlagsplan nicht entdeckt wurde. Denn da waren ja offensichtlich sehr viele Leute beteiligt. Mindestens acht, wahrscheinlich deutlich mehr. Und das wurde über Monate vorbereitet. Da wird viel kommuniziert worden sein: per E-Mail, per Telefon, per WhatsApp. Die Frage ist: Warum ist das nicht bemerkt worden?

Das war jetzt schon der zweite Terrorangriff, der Paris in diesem Jahr getroffen hat. Wie unterscheiden sich diese Anschläge von dem Attentat auf Charlie Hebdo?

Neumann Diese Anschläge waren vollkommen wahllos und sind deshalb so schockierend. Bei Charlie Hebdo hätte man denken können: Ich gehöre keinem Satire-Magazin an und ich bin kein Jude, also trifft es mich nicht. Was jetzt passiert ist war wahlloser. Restaurant, Konzert, Fußballspiel — da hat sich wirklich jeder gedacht: Das hätte ich sein können.

Ist das nicht so?

Neumann Terror-Anschläge sind sehr seltene Ereignisse. Es ist immer noch wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als bei einem terroristischen Anschlag zu sterben. Es ist auch sehr viel wahrscheinlicher, in einem Autounfall zu sterben. Der Unterschied zu diesen anderen Todesursachen ist, dass das Dinge sind, die wir für kalkulierbar halten. Wenn wir an Bord eines Flugzeugs gehen oder uns ins Auto setzen, haben wir eine gewisse Kontrolle. Und wir glauben, das einschätzen zu können. Beim Terrorismus ist das anders.

Glauben Sie, dass diese Art von Anschlägen weiter zunehmen wird?

Neumann Ich gehe schon davon aus, dass noch mehr solcher Anschläge passieren. Vielleicht nicht jede Woche, aber ab und an. Wir haben 5 000 Westeuropäer, die als Auslandskämpfer nach Syrien und in den Irak gegangen sind. Wir haben mindestens eine genauso große Zahl von enthusiastischen Unterstützern, die hier geblieben sind, die zum Teil im Internet sehr aktiv sind. Wenn sie einen solchen Bodensatz haben, dann wird da Schlechtes dabei rauskommen. Ich bin der Überzeugung, dass wir uns wahrscheinlich auf mehr einstellen müssen. Das bedeutet nicht, dass wir hysterisch werden sollten. Wir müssen uns aber an diese Bedrohung gewöhnen.

Daran "gewöhnen"?

Neumann Ja, natürlich. In den letzten drei, vier Jahren haben wir eine ungewöhnlich starke Mobilisierung von Dschihadisten in Europa gesehen. Stichwort "Auslandskämpfer", Stichwort "Radikalisierung im Internet", Unterstützer des Islamischen Staates, die hier geblieben sind, der Islamische Staat als Inspiration und Utopie. Natürlich wird das Konsequenzen haben — wahrscheinlich auf Jahre hinweg. Da ist es ganz wichtig, dass wir nicht hysterisch reagieren und nach jedem Anschlag sagen: Hinter jeder Moschee steckt ein Terrorist. Aber gleichzeitig dürfen wir die Gefahr auch nicht ignorieren. Wir brauchen eine realistische Einschätzung. Es wird wahrscheinlich nicht jede Woche etwas passieren, aber das Risiko besteht ganz bestimmt.

Was ist eine mögliche Strategie, um diesem Terror entgegenzuwirken? Wie kann man ihn eindämmen?

Neumann Sicherheitspolitisch muss da einiges geschehen. Natürlich geht es auch darum, die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden zu verbessern. Darum, den Islamischen Staat in seinem Kerngebiet weiter zu bekämpfen. Das bedeutet nicht unbedingt eine Invasion von Syrien oder Irak. Ich glaube, das wäre ein großer Fehler. Aber es ist wichtig, den IS dort weiter aggressiv einzudämmen. Das Problem in vielen europäischen Ländern ist die Abwesenheit einer systematischen Präventionsstrategie. Das gilt auch für Deutschland und Frankreich. Es kann nicht sein, dass wir 15 Jahre nach dem 11. September immer noch Terrorismus- und Extremismus-Prävention betreiben, als wäre das ein Hobby, ein Nebenkriegsschauplatz. Das ist genauso wichtig wie die Sicherheitspolitik, und das funktioniert auch, wenn man es systematisch betreibt und wenn man es gut finanziert.

Wo liegen denn die konkreten Ursachen? Wo muss man ansetzen?

Neumann Wir reden jetzt zum Beispiel über diesen Stadtteil in Brüssel, wo sich offensichtlich über Jahre hinweg eine Dschihadisten-Szene gebildet hat. Das ist genau der Punkt: Man muss in diese Stadtteile rein, man muss sich mit den jungen Leuten dort auseinandersetzen — Prävention betreiben. Die Tatsache, dass so etwas entstehen konnte, ohne dass die Gesellschaft oder die Behörden das bemerkt haben, zeigt doch, dass wir uns mit solchen problematischen Stadtteilen überhaupt nicht mehr auseinandersetzen. Es ist ganz wichtig, dass solche Maßnahmen richtig finanziert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht so viele Fälle auf den Tischen der Sicherheitsbehörden landen.

Sie sprechen von einer "aggressiven Eindämmung" im Kerngebiet des IS. Sind die Luftangriffe der Franzosen die richtige Antwort?

Neumann Wir müssen zunächst herausfinden, was diese Luftangriffe überhaupt waren. Von der ersten Betrachtung her muss ich sagen: 20 Angriffe in einer Nacht sind keine massive Luftkampagne. Dann stellt sich die Frage: Sind das möglicherweise Luftschläge, die die Amerikaner ohnehin ausgeführt hätten? Was wir im Kerngebiet des IS brauchen, sind nicht noch mehr Luftschläge. Die Amerikaner bombardieren da ohnehin alles, was ihnen sinnvoll erscheint. Was wir im Kerngebiet brauchen, sind Spezialkräfte — und auch eine neue Einstellung der Türkei. Das Rückzugsgebiet des IS ist nach wie vor die Türkei. 99 Prozent aller Auslandskämpfer kommen über die Türkei. Die Türkei müsste ihre Grenze für den IS endlich aggressiv dichtmachen, das wäre das Wichtigste. Das ist bisher nicht geschehen. Das wäre sinnvoller und wichtiger als 20 Luftschläge in Syrien.

Weitere Anschläge in Europa sollen geplant sein. Sehen auch Sie diese Gefahr?

Neumann Dass da weitere Anschläge geplant sind, überrascht mich überhaupt nicht. Die Anschläge von Paris waren insofern neu, als dass sie aus Syrien zentral gesteuert wurden. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass der Islamische Staat schon so früh in der Lage ist, Netzwerke in Europa aufzubauen. Die Tatsache, dass der IS in Europa Anschläge verüben möchte, ist nichts neues. Das wissen wir seit 14 Monaten. Nach dem Beginn der westlichen Luftschläge hat der IS seine Strategie geändert und zu Anschlägen in Europa aufgerufen. Die ersten 14 Monate bis Paris waren das vor allem Anschläge von Einzeltätern oder von kleinen Gruppen, die auf eigene Faust gehandelt haben.

Was kann man denn als normaler Mensch dagegen machen? Wie kann sich der Einzelne schützen?

Neumann Man kann sich nicht davor schützen, indem man zum Beispiel bestimmte Plätze vermeidet. Die einzige wirklich konsequente Art wäre, sich Zuhause einzuschließen. Man muss sich immer überlegen, was die Terroristen eigentlich wollen. Eine Motivation war sicher, europäische Gesellschaften zu polarisieren, sie zu spalten. Eine große Gefahr geht davon aus, dass durch solche Anschläge das europäische Gesellschaftsmodell gefährdet wird, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Religion friedlich zusammenleben. Sich einfach normal zu verhalten und Muslimen nicht mit Ablehnung oder Misstrauen gegenüberzutreten — das ist das Wichtigste, was Europäer jetzt tun können. Denn die Terroristen wollen ja, dass sich Muslime noch weiter abschotten. Dieses Spiel sollten wir nicht mitspielen. Wir sollten weiter muslimische Gemeinschaften in Europa genauso als Europäer behandeln, wie wir es auch mit anderen tun.

Immer mehr Menschen setzen Zuwanderung mit einem Sicherheitsrisiko gleich. Wie geht man mit solchen Pauschalisierungen um?

Neumann Ich denke, dass da auch die Politiker gefordert sind, an dieses Thema verantwortungsvoll heranzugehen. Das sind nicht "die Muslime", das ist nicht "der Islam". Das ist eine bestimmte Gruppe, eine Minderheit, die den Islam für sich in Anspruch nimmt. Ich bin nicht einer, der sagt: Das hat mit dem Islam überhaupt nichts zu tun. Aber es hat eben nichts mit dem Islam zu tun, wie er von 99 Prozent der Muslime praktiziert wird. Das ist schon eine krasse Randerscheinung. Genauso wie nicht jeder Deutsche ein gewaltbereiter Neonazi ist. Natürlich haben Neonazis was mit Deutschland zu tun, aber sie haben mit 99 Prozent der Deutschen nichts zu tun. Man muss den Populisten entgegentreten, die jetzt versuchen, aus dieser Situation Kapital zu schlagen. Ich glaube, das wird für Europa eine schwierige Situation: Die Konsequenzen dieser Anschläge sind nicht nur die Opferzahlen. Es sind auch politische Konsequenzen: Werden wir uns in Europa polarisieren lassen? Werden wir erlauben, dass unser Gesellschaftsmodell infrage gestellt wird? Dieser krassen Entscheidungen müssen wir uns bewusst sein.

Peter Neumann ist weltweit einer der wichtigsten Experten für islamistischen Terrorismus. Er lehrt am Londoner King's College und hat in diesem Jahr ein Buch über den neuen Terror veröffentlicht. Der Titel: "Die neuen Dschihadisten: ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus". Das Interview führte Vassili Golod.

(gol)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort