Analyse Regierung startet "Demografie-Check" für alle Gesetze

Berlin · Altersvorsorge, Pflegereform, Ökosteuer – die Regierung überprüft bei allen Projekten, wie stark sie künftige Generationen belasten. Genau das ist bemerkenswerterweise einer der wichtigsten Kritikpunkte am aktuellen Rentenpaket.

So plant die Regierung
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Altersvorsorge, Pflegereform, Ökosteuer — die Regierung überprüft bei allen Projekten, wie stark sie künftige Generationen belasten. Genau das ist bemerkenswerterweise einer der wichtigsten Kritikpunkte am aktuellen Rentenpaket.

Gähnend leere Kitas und hoffnungslos überfüllte Seniorentreffs, menschenleere Siedlungen auf dem Land und überteuerte Szeneviertel in den Großstädten, arbeitslose Hebammen und überforderte Pflegekräfte — sieht so Deutschland in wenigen Jahrzehnten aus? Hat die Entwicklung vielleicht schon eingesetzt und gilt es jetzt, mutig gegenzusteuern?

Wenn das drohende Szenario der gesellschaftlichen Veränderung konkret wird, klingt der spröde Begriff Demografie gar nicht mehr so sperrig. Die Bundeskanzlerin versucht seit Jahren, die Politik dafür zu sensibilisieren. Jetzt hat die Regierung still und leise sogar den im Koalitionsvertrag vereinbarten "Demografie-Check" für alle ihre Vorhaben eingeführt. Allerdings bleiben Schwächen und eklatante Glaubwürdigkeitslücken.

Vier Seiten umfasst der regierungsinterne Fragenkatalog "bezüglich demografischer Folgen und Risiken", der unserer Redaktion vorliegt. Das Innenministerium hat ihn gerade an alle anderen Ressorts verschickt und darauf hingewiesen, "dass bei allen Rechtssetzungsvorhaben im Rahmen der vorzunehmenden Folgenabschätzung auch ein Demografie-Check durchzuführen ist".

Zu prüfen sind 18 Fragen

Er schließt sich an ähnliche Gesetzesfolgenabschätzungen an, die bereits die letzte große Koalition im Mai 2009 eingeführt hatte. Seitdem müssen sämtliche mit dem Entwurf von Gesetzestexten beauftragten Referate eine lange Liste möglicher Probleme abarbeiten. Zu prüfen sind 18 Fragen zu den ökonomischen Auswirkungen von Gesetzen, 24 zu den möglichen ökologischen Risiken, weitere 24 zu sozialen Folgen und acht weitere, die sich um innere wie äußere Sicherheit drehen und bis zu entwicklungspolitischen Zielen reichen.

Nun kommen zwei Dutzend Demografie-Aspekte hinzu. Die damit zusammenhängenden Fragen sind von einzelnen oder mehreren Ministerien jeweils mit ja oder nein zu beantworten. Beispielsweise soll das Familienministerium klären, ob das Vorhaben "Auswirkungen auf die zukünftige Geburtenentwicklung" haben könnte, das Bauministerium, ob Folgen für die "Verfügbarkeit von familiengerechtem Wohnraum und familienfreundliche Infrastrukturen" entstehen, das Arbeitsministerium ist bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefragt, das Verkehrsministerium bei der "wohnortnahen und barrierefreien Versorgung mit Angeboten und Einrichtungen der Daseinsvorsorge", und das Bildungsministerium muss die Konsequenzen für die Betreuungs- und Ausbildungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen abklären.

De Maizière hat die Federführung übernommen

Eine ganze Reihe von Fragen bleiben bei Innenminister Thomas de Maizière (CDU) selbst, der für die Demografie-Strategie der Bundesregierung ohnehin die Federführung übernommen hat. So soll er sich bei jedem neuen Gesetz Gedanken darüber machen, ob die künftige Altersstruktur der Bevölkerung davon betroffen sein wird und das Gesetz die absehbaren Veränderungen bereits berücksichtigt. Ähnliches gilt für die Annahme, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland weiter zunehmen wird. Die Gesetze sollen also schon heute so gemacht sein, dass sie morgen noch zu den Einwohnern Deutschlands passen.

Die spannendste ist die siebte Frage, die nun regelmäßig bei jedem neuen Projekt von Innen-, Finanz- und Gesundheitsminister beantwortet werden muss: "Führt das Vorhaben zu finanziellen Belastungen (z. B. Steuer- oder Abgabeerhöhungen, Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge) für künftige Generationen?"

Genau das ist derzeit die Hauptkritik am Rentenpaket der Bundesregierung. Unter Berufung auf Berechnungen des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen kritisiert etwa der CDU-Wirtschaftsrat die geplanten Leistungsausweitungen, weil sie langfristig die versteckte Staatsverschuldung in der gesetzlichen Rentenversicherung um 443 Milliarden Euro erhöhten. Wirtschaftsrat-Sprecher Wolfgang Steiger an die Adresse der Arbeitsministerin: "Anstatt den demografischen Wandel zu bewältigen, packt Frau Nahles jedem Säugling mit seinem ersten Atemzug über 5000 Euro Schulden zusätzlich auf die schmalen Schultern."

Regierungsinterne Fragelisten offenbaren Schwachstellen

Das klingt nach einem klassischen Fall für den "Demografie-Check". Die regierungsinternen Fragelisten offenbaren an dieser Stelle jedoch ihre Schwachstellen. Zum einen hängen zuverlässige Prognosen von vielen verschiedenen Faktoren ab, deren Auswirkungen auf die Zukunft gewichtet und auch gegeneinander abgewogen werden müssen. Ob zu einem einzelnen Gesetzesvorhaben auf allen Feldern einfache Ja/Nein-Antworten möglich sind und ausreichen, erscheint vielen Beobachtern zweifelhaft.

Zum anderen bleibt dieser Klärungsprozess sozusagen in der Werkstatt der Gesetzesmacher und kann für Außenstehende kaum nachvollzogen werden. Dabei weisen die Gesetze schon jetzt deutlich mehr Hintergrunderläuterungen auf als früher. Wenn die Kanzlerin dem Bundestagspräsidenten einen Gesetzentwurf zuleitet, muss sie zusätzlich immer das zugrundeliegende Problem und das Ziel des Gesetzes beschreiben, die Lösung skizzieren, auf mögliche Alternativen verweisen und eine Berechnung anstellen, welcher Aufwand und welche Kosten für den einzelnen Bürger, für die Wirtschaft und für die Bürokratie entstehen. Anschließend wird auch noch der Normenkontrollrat eingeschaltet, der ein Votum darüber abgibt, ob die Regierung damit beim Bürokratieabbau vorankommt.

Das Ergebnis des "Demografie-Checks" hingegen findet sich nicht im Gesetzentwurf wieder. Er dürfte von den Ministerien vor allem als Argumentationshilfe benutzt werden, wenn sie im Rahmen der Ressortabstimmung noch Absichten anderer Häuser im Detail verhindern oder verändern wollen.

(may-)
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