Sigmar Gabriel im Interview "Irre gibt es bei der AfD zuhauf"

Berlin · SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert im Interview mit unserer Redaktion die großzügige Übernahme von Kontingentflüchtlingen aus der Türkei. Er zeigt sich unzufrieden mit dem Wirtschaftswachstum in Deutschland und erklärt, warum er sich mit Vertretern der AfD nicht in eine Fernseh-Talkshow setzen mag.

 SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach mit unserer Redaktion.

SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach mit unserer Redaktion.

Foto: dpa, mut jai

Herr Gabriel, rechnen Sie Mitte März nach den Landtagswahlen mit einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin?

Gabriel Nein. Denn ebenso wie die SPD verfolgt auch Frau Merkel das Ziel, die Zuwanderung von Flüchtlingen im laufenden Jahr deutlich zu verringern. Denn wir werden keine gute Integration schaffen, wenn jedes Jahr eine Million Flüchtlinge zu uns kommen. Wir wollen die Reduktion mit drei Maßnahmen erreichen: Erstens wollen wir gemeinsam mit anderen Staaten die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens deutlich verbessern. Die Not dort ist viel zu groß, so dass immer mehr Familien ihr Heil in der Flucht suchen. Zweitens brauchen wir eine effektive Sicherung der Außengrenzen Europas auch mit Hilfe der Türkei und drittens eine Übernahme durchaus großer Kontingente vor allem aus der Türkei. Wir müssen endlich weg von der chaotischen Zuwanderung. Kontingente heißt: wir wissen wer kommt, wie viele kommen und wann. Vor allem ist es aber für die Flüchtlinge ein gesicherter Weg auf dem sie nicht ihr Leben an Menschenhändler verkaufen müssen.

Wie groß sollten die Kontingente sein?

Gabriel Ganz sicher weiter unter der Million, die im letzten Jahr gekommen sind. Aber eben auch weit größer als die kleinen Kontingente von 5.000 oder 10.000, die wir in früheren Jahren genommen haben. Vor allem muss es berechenbar für die Türkei sein. Wenn wir die Türkei dazu bringen wollen, die Schlepper und Menschenhändler an der Küste zu Griechenland zu bekämpfen und ein Rückübernahmeabkommen für Flüchtlinge aus Europa mit uns zu schließen, dann will die türkische Regierung natürlich wissen, wie viel wir ihnen pro Jahr abnehmen. Ohne die Bereitschaft Europas und Deutschlands zur Aufnahme sehr großer Flüchtlingskontingente aus der Türkei, wird die türkische Regierung nicht mit uns zusammenarbeiten. Deshalb ist der Wahlkampfvorschlag der CDU-Oppositionsführerin Frau Klöckner so gefährlich. Denn "tagesaktuelle Kontingente" wird die Türkei niemals akzeptieren, weil dabei jede Berechenbarkeit fehlt. Frau Klöckner ist in Wahrheit der Bundeskanzlerin bei den Verhandlungen mit der Türkei in den Rücken gefallen.

Sind 400.000 Flüchtlinge pro Jahr eine vertretbare Grenze?

Gabriel Wie gesagt, die Zahl müsste weit unter der Million liegen, die im letzten Jahr gekommen sind.

Wäre es für eine internationale Lösung der Flüchtlingsfrage sinnvoll, die Türkei zu einem sicheren Drittstaat zu erklären?

Gabriel Jetzt geht es erst einmal darum, ob wir die Türkei als sicheres Herkunftsland einstufen. Die EU-Kommission hat das zuletzt vorgeschlagen und ich bin dafür, das zu tun. Das heißt ja nicht, dass wir keinen Asylantrag aus der Türkei mehr prüfen. Jeder Kurde aus der Türkei z.B., der in Deutschland einen Asylantrag stellt, könnte auch weiterhin seine Verfolgungsgründe darstellen und auch in Zukunft bei uns Asyl bekommen.

Heute ist das Asylpaket II wieder nicht im Kabinett. Woran hakt es?

Gabriel Es hakt seit Monaten am Familiennachzug. Es gab eine Einigung von Frau Merkel, Herrn Seehofer und mir, dass wir den Familiennachzug bei den Flüchtlingen erst nach zwei Jahren zulassen, die nicht aus Bürgerkriegsgebieten kommen, die wir aber trotzdem aus humanitären Gründen aufnehmen. Die einzige Ausnahme sollten Syrer sein, weil die Integration der vielen jungen Männer leichter ist, wenn ihre Familien und ihre Kinder auch hier sind. Die CSU hat diese Einigung dann aufgekündigt. Das ist nicht gut, weil der Eindruck entstanden ist, die Regierung sei nicht handlungsfähig.

Wie wollen Sie den gordischen Knoten durchschlagen?

Gabriel Frau Merkel und ich haben dem Kollegen Seehofer einen konstruktiven Vorschlag unterbreitet und am Donnerstag reden wir darüber. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir uns einigen. Es ist im Grunde auch nur ein Randthema, denn es kommen pro Jahr nur sehr wenige Menschen über den Familiennachzug.

Haben Sie das Flüchtlingsproblem in Ihren Jahreswirtschaftsbericht eingepreist?

Gabriel Der Bericht befasst sich mit den Konjunkturaussichten. Die sind nach wie vor gut. Vor allem läuft der Arbeitsmarkt exzellent: mehr als 43 Millionen Erwerbstätige — so viel wie noch nie. Und dazu die geringste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Ich denke, darauf dürfen wir durchaus etwas stolz sein. Aber zur Wahrheit gehört auch: wir leben immer mehr von der Substanz und immer noch von den Reformen des SPD-Kanzlers Gerd Schröder. Angesichts der guten Rahmenbedingungen wie dem niedrigen Ölpreis und dem günstigen Wechselkurs müsste die wirtschaftliche Dynamik oberhalb von derzeit 1,7 Prozent Wirtschaftswachstum liegen. Und deswegen bin ich dafür, dass wir neue Impulse setzen. Wir müssen besser werden bei Forschung und Entwicklung, bei der Digitalisierung und auch bei so wichtigen Leitindustrien wie der Elektromobilität. Rheinland-Pfalz ist übrigens ein Beispiel, wo das bereits hervorragend gelingt: die SPD Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat das Land zur Nummer 1 in Deutschland in der Bildungspolitik gemacht. Und auch bei Themen wie der Digitalisierung gehört Rheinland-Pfalz zu den Spitzenländern in Deutschland. Das Land gehört zu den innovativsten in Deutschland und hat entsprechend niedrige Arbeitslosigkeit. Und das seit Jahren.

Das ehrgeizige Projekt für eine Million Elektroautos bis 2020 kommt auch nicht in Gang...

Gabriel Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir das Ziel von 1 Million Elektrofahrzeuge im Jahr 2020 aufrecht erhalten? Immerhin trägt die Bundesregierung das wie eine Monstranz seit 2009 vor sich her. Dann brauchen wir ein Marktanreizprogramm wie Kaufprämien oder steuerliche Anreize. Wenn wir das nicht machen, sollten wir ehrlich sein und uns von diesem Ziel verabschieden. In jedem Fall brauchen wir eine Ladeinfrastruktur und ein öffentliches Beschaffungsprogramm. Im Gegenzug muss die Industrie aber auch etwas bringen: die industrielle Produktion von Batterien der nächsten Generation muss in Deutschland stattfinden und nicht nur in Asien.

Ist angesichts dieser Investitionsvorhaben die schwarze Null zu halten?

Gabriel Die schwarze Null darf kein Dogma sein — weder in die eine noch in die andere Richtung. Das sehe ich pragmatisch. Wenn wir sie erreichen können, ohne wichtige Investitionen zu vernachlässigen: Prima. Aber wenn wir Steuerüberschüsse produzieren und dafür wichtige Investitionen in Bildung, Infrastruktur, Wohnungsbau oder Digitalisierung liegen lassen, dann ist es falsch. Das müssen dann nämlich kommende Generation viel teurer bezahlen.

Braucht es nicht angesichts der künftigen Probleme statt eines weiteren Asylpakets ein Integrationspaket?

Gabriel Ich bin entschieden dafür, dass wir vor der Sommerpause ein Integrationspaket auf den Weg bringen. Bildung, Wohnungsbau, Ausbildung: das steht jetzt auf der Tagesordnung. Im letzten Jahr haben wir für die Unterbringung der Flüchtlinge gesorgt. Jetzt müssen wir ein Integrationsprogramm auflegen, das weit über Sprachkurse hinausgeht. Deswegen sollten sich Bund, Länder und Kommunen auf ein solches Paket einigen.

Was sollte das Paket beinhalten?

Gabriel Wir müssen die Standards im Baurecht absenken, um schnell zu bezahlbaren Wohnungen zu kommen. Nicht für Flüchtlinge, sondern für alle, die auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind. Wir müssen auch deutlich mehr Sprachkurse, Kita-Plätze und Klassenkapazitäten an den Schulen schaffen. Und wir müssen die Beschäftigung durch die öffentliche Hand ausbauen, um mehr geringqualifizierte Flüchtlinge, aber auch mehr einheimische Langzeitarbeitslose zu beschäftigen.

Wird sich die AfD bundesweit in den Parlamenten festsetzen?

Gabriel Nein, dafür sind die deutschen Wähler viel zu klug.

Werden die verschwinden wie die Piratenpartei?

Gabriel Wir kämpfen dafür, dass die AfD gar nicht erst in die Parlamente einzieht, weil sie unfähig ist, mit dem demokratischen Auftrag umzugehen.

Wären Sie bereit, sich mit einem AfD-Vertreter in eine Talkshow zu setzen?

Gabriel Das kommt auf die Person an. Wenn das einer ist, der die Todesstrafe wieder einführen will, um Leute wie mich an die Wand zu stellen, dann werde ich mich mit dem sicherlich nicht in eine Talkshow setzen. Solche Irren gibt es bei der AfD ja zuhauf. Wer, wie viele führende AfD-Mitglieder, die freiheitlich demokratische Grundordnung missachtet, dem verhelfe ich nicht zu einem Millionen-Publikum.

War es ein Fehler, dass Malu Dreyer die Talkrunde im SWR mit Beteiligung der AfD abgesagt hat?

Gabriel Nein. Das ist eine ganz andere Geschichte, es geht hier nur um die sogenannte Elefantenrunden vor der Landtagswahl. Der SWR will hier ohne Not der AfD eine Plattform geben. Der Intendant des SWR hat seine eigene ursprüngliche Planung umgeschmissen und will nun alle Parteien einladen, die eine Chance haben, in den Landtag zu kommen. Was ist denn das für ein Kriterium? Dann muss die FDP, wenn sie bei 5,1 Prozent steht, eingeladen und bei 4,9 Prozent wieder ausgeladen werden. Das ist im Übrigen derselbe Intendant, der im vergangenen Jahr seine Journalisten angewiesen hat, bei der AfD nicht mehr den Zusatz rechtspopulistisch zu verwenden. Der hat keinen klaren Kompass und ruft jetzt "Haltet den Dieb" und zeigt auf die Parteien.

Rückblickend auf den Parteitag im Dezember: Welche Lehre haben Sie aus Ihrem Wahlergebnis gezogen?

Gabriel Meine Schätzung von 78 Prozent war zu optimistisch (lacht).

Und sonst?

Gabriel Ich habe der SPD im vergangenen Jahr viel zugemutet. Aber ich bin davon überzeugt, dass es notwendig war. Beispiel: Die Vorratsdatenspeicherung. Nach den schrecklichen Terroranschlägen von Paris wäre in Deutschland eine ganz andere Debatte entfacht, wenn wir das nicht gemacht hätten. Lieber 75 Prozent für das Richtige als 100 Prozent für das Falsche oder das Unklare.

Zur Frage, wer bei der SPD Kanzlerkandidat wird, sagen Ihre Genossen: Der muss das machen. Der hat keine andere Wahl. Ist das so?

Gabriel Jeder Vorsitzende einer großen Partei muss sich für geeignet halten, auch Kanzler unserer Republik zu werden. Sonst sollte er nicht Vorsitzender werden. Wenn es bessere gibt, sollte er aber auch den Mut haben, die eigenen Ambitionen zurück zu stellen. Aber nochmal: die SPD entscheidet das, wenn es an der Zeit ist."

Jan Drebes und Eva Quadbeck führten das Interview.

(Qua/jd)
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