Neue Schuldebatte in Deutschland "Sitzenbleiben ist Lebenszeit-Verschwendung"

Düsseldorf · Die rot-grüne Regierung in Niedersachsen zeigt sich entschlossen, möglichst bald das Sitzenbleiben abzuschaffen. Ein Vorstoß mit Wirkung: Auch in anderen Ländern wird rege diskutiert. NRW (ebenfalls Rot-Grün) legt dabei eine klare Haltung an den Tag.

Zehn Ergebnisse aus dem Bildungsbericht 2012
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Foto: dpa, Armin Weigel

So bezeichnet NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das Sitzenbleiben als eine "Verschwendung der Lebenszeit" bezeichnet.
"Meistens haben die Schüler Schwächen in einzelnen Fächern und nicht generell", erklärte die Grünen-Politikerin am Sonntag in Düsseldorf.
Es gehe darum, in diesen Fächern möglichst früh einzugreifen und individuell zu fördern.

"Wir in NRW wählen einen sanften, gleichwohl zielorientierten Weg: Wir schaffen das Sitzenbleiben nicht rigoros ab, sondern wollen es durch individuelle Förderung möglichst überflüssig machen." Die Schulen seien gefordert, Verantwortung für die Schüler zu übernehmen.

Quoten in NRW gesunken

Nach ihren Angaben sind die Sitzenbleiberquoten in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren spürbar gesunken. "Der Auftrag "Fördern statt Wiederholen" ist angekommen. In den Gesamtschulen gibt es in der Regel kein Sitzenbleiben - und die Erfahrungen sind insgesamt positiv."

Derweil entzündet sich quer durch die Länder neuer Streit um den Sinn und Unsinn des Sitzenbleibens. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Stephan Dorgerloh (SPD), begrüßte das Konzept aus Niedersachsen und verlangte mehr individuelle Förderung für Schulkinder. Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) sagte dagegen: "Das ist bildungspolitischer und pädagogischer Populismus."

Reformer verweisen auf gute Erfahrungen

Die designierte niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) stellte klar, dass Rot-Grün das Sitzenbleiben nicht sofort und für alle Schulen abschaffen will. "Wir haben ein perspektivisches Ziel formuliert, das nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

SPD und Grüne haben in ihrem Koalitionsvertrag als Ziel festgeschrieben, "Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig (zu) machen". Heiligenstadt verwies auf die guten Erfahrungen, die man mit dem Verzicht aufs Durchfallen an integrierten Gesamtschulen gemacht habe: "Wir haben an den Schulen die niedrigste Schulabbrecher-Quote überhaupt", sagte sie. "Aber natürlich müssen die Schulen auch in die Lage versetzt werden, so arbeiten zu können."

Auch in Hamburg tut sich was

Bundesweit wiederholen pro Jahr etwa zwei Prozent aller Schüler eine Klasse. In den vergangenen Jahren haben eine ganze Reihe von Ländern entschieden, das Durchfallen ganz oder zumindest teilweise für bestimmte Jahrgangsstufen oder Schulformen zu streichen.

In Hamburg zum Beispiel ist Sitzenbleiben zurzeit in den Klassen 1 bis 9 abgeschafft, bis 2017 soll das für alle Klassen gelten. Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagte der dpa: "Wir haben eine Ersatzregelung eingeführt, die lautet: Wer in einem Kernfach eine 5 in einem Zeugnis hat, muss in eine kostenlose schulische Nachhilfemaßnahme." Das rot-grün regierte Rheinland-Pfalz will in einem Modellversuch den Verzicht aufs Sitzenbleiben testen. "Das ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben", sagte der Sprecher des Bildungsministeriums, Wolf-Jürgen Karle. In Berlin müssen nur Gymnasiasten und - im Ausnahmefall - Grundschüler befürchten, eine Klasse wiederholen zu müssen.

Schulabschlüsse wie "ungedeckte Schecks"

In der kürzlich von Grün-Rot in Baden-Württemberg eingeführten Gemeinschaftsschule können die Kinder schon heute nicht mehr durchfallen. Das wolle er Schritt für Schritt auch an den anderen Schulen durchsetzen, sagte der Stuttgarter Kultusminister Andreas Stoch (SPD) der dpa. "Die Angst vor dem Sitzenbleiben ist keine sinnvolle Lernmotivation für die Schülerinnen und Schüler."

In Bayern drehten im vergangenen Schuljahr 2,3 Prozent der Gymnasiasten, 2,6 Prozent der Realschüler und 1,1 Prozent der Mittelschüler eine "Ehrenrunde". Kultusminister Ludwig Spaenle kritisierte die Pläne Niedersachsens: "Man entkleidet sich ohne Not eines pädagogischen Instruments, das den Schülern die Möglichkeit bietet, Versäumtes nachzuarbeiten", sagte er der "Süddeutschen Zeitung" (Samstag). Josef Kraus, Chef des Deutschen Lehrerverbands, sagte dem Blatt: "Es gibt keine pädagogische Begründung für die Abschaffung, außer man ist ein naiver Utopist." Schulabschlüsse würden damit zu ungedeckten Schecks. "Da kann man gleich eine Abitur-Vollkasko-Garantie anbieten."

Sachsen-Anhalts Kultusminister Dorgerloh betonte dagegen, die Wissenschaft sei zum größten Teil der Auffassung, dass das Sitzenbleiben nichts bringe. "Wir brauchen mehr individuelle Förderung", sagte der KMK-Präsident der dpa in Magdeburg. Dies sähen zunehmend auch Lehrer und Eltern so.

(lnw/pst/csi)
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