SPD-Chef Martin Schulz "Die Leute finden mich peinlich"

Berlin · Im "Spiegel" ist eine bemerkenswerte Nahaufnahme von SPD-Chef Martin Schulz als Kanzlerkandidat erschienen. Sie zeigt einen Mann zwischen Zweifeln und Angriffslust. Jetzt könnte sie dem Wahlverlierer nachträglich noch schaden.

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Jubel im Willy-Brandt Haus

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Foto: dpa/Britta Pedersen

Wenn die einzige Verabredung zwischen einem Kanzlerkandidaten und einem Journalisten lautet, dass die große Reportage erst nach der Wahl erscheinen dürfe, hat der Journalist schon gewonnen. Und wenn der Kanzlerkandidat den Journalisten dann noch über 150 Tage so nah an sich heranlässt, wie sonst nur seine engsten Mitarbeiter, ist das für den Reporter ein Elfmeter ohne Torwart. Verwandelt hat ihn der "Spiegel"-Redakteur Markus Feldenkirchen in einer ungewöhnlichen Makroaufnahme von SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Sein Text beschreibt einen gehypten, dann wackeren und zum Schluss frustrierten Wahlkämpfer, der zu spät von Amtsvorgänger Sigmar Gabriel nominiert wurde. Zunächst naiv und ohne eine auf ihn zugeschnittene Kampagne tingelte Schulz den Darstellungen zufolge durch das Land, um bei den Menschen bekannter zu werden. "Ich hab da einfach so losgebabbelt", wird Schulz zitiert.

Dieser Satz soll in einer Schlüsselszene gefallen sein: Als der Meinungsforscher und Infratest-Dimap-Mitbegründer Richard Hilmer am 19. Juli im Willy-Brandt-Haus Analysen präsentierte, wie der Schulz-Hype entstehen und wie er verschwinden konnte. Hilmer attestierte Schulz damals, den Ton gut getroffen zu haben.

Für Hannelore Kraft hohen Preis gezahlt

Das Problem: Er legte nicht mit konkreten Vorhaben wie dem erst später vorgestellten Zukunftsplan nach, zog sich auf Geheiß der damals noch regierenden NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft aus dem Landtagswahlkampf zurück. Heute wird das als der Kardinalfehler gesehen, Schulz erholte sich von der verlorenen NRW-Wahl nicht mehr. "Für dich haben wir einen hohen Preis gezahlt", sagte Schulz dem Text zufolge an Kraft gerichtet, als er Wahlberichte sah.

Feldenkirchens Porträt beschreibt aber vor allem, wie Schulz zuerst die Hoffnungen vieler Menschen weckte und sich dann durch Rat von Experten und Mitarbeitern immer weiter vom eigenen Sound, den eigenen Positionen entfernte. Schulz wurde zum Füllhorn für politische Inhalte, so scheint es. Zahlreiche Zitate führt Feldenkirchen an, um das zu belegen. "Vielleicht bin ich der falsche Kandidat", soll Schulz auf einem der Tiefpunkte Anfang Juli gesagt haben, als die SPD in Umfragen absackte. Oder: "Die Leute sind ja nett zu mir, aber sie sind es aus Mitleid." Weil er trotz der schlechten Umfragen auch noch im September betonte, er wolle Bundeskanzler werden, kamen Schulz düstere Gedanken. "Ich muss da jeden Tag erklären, dass ich Kanzler werden will, und jeder weiß: Der wird nie Kanzler. Die Leute finden mich peinlich, die lachen doch über mich", soll Schulz gesagt haben.

Gabriel stahl Schulz die Show

Und zu der schwierigen Lage, mit eigenen Inhalten nicht durchzudringen und bei der Kanzlerin keine Debatte anzetteln zu können, kamen Probleme mit prominenten Genossen. Immer wieder meldete sich Ex-SPD-Chef und Außenminister Gabriel zu Wort, eigentlich ein Freund von Martin Schulz. Mit aufsehenerregenden Terminen etwa zur Europapolitik stahl er Schulz wiederholt die Show, nahm ihm Themen weg. "Jetzt reicht's", schrieb Schulz Ende August in einer SMS an Gabriel. Und als bekannt wurde, dass Altkanzler Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat des russischen Konzerns Rosneft gehen wolle, sagte Schulz: "Dieser Schröder geht mir auf den Senkel." Zu störenden Ereignissen wie den Krawallen beim G20-Gipfel sagte Schulz dem Bericht zufolge resignierend: "Ich habe regelrecht Scheiße am Fuß."

Und doch, auch das beschreibt Feldenkirchen, rappelte sich Schulz immer wieder hoch, saugte aus kleinen Erfolgen wie einzelnen Pluspunkten in Umfragen seine Energie. Schulz gab nicht auf, blieb standhaft und rackerte weiter. Jetzt, als Oppositionspolitiker, erscheint er nicht nur dem "Spiegel"-Autor als freier, gelöster, endlich angriffslustiger.

Schulz ist angezählt

Das Problem: Schulz ist jetzt angezählt, es ist unklar, wie lange er sich halten kann. FDP-Chef Christian Lindner lehnte sich bereits mit der Prognose aus dem Fenster, er gebe Schulz noch vier Wochen im Amt. Also wird die Niedersachsen-Wahl zur Entscheidung über Wohl und Wehe des Mannes aus Würselen? Noch fordern Genossen, Schulz müsse die Partei erneuern. Er sei mit 100 Prozent ins Amt gewählt worden, das Vertrauen sei nicht weg, heißt es. Dennoch ist seine Position unsicher. Muss er gehen, stehen früher oder später wohl diese drei für die Nachfolge bereit: Fraktionschefin Andrea Nahles, Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz.

Aber wie wirkt sich das "Spiegel"-Porträt darauf aus? Meinungsforscher Richard Hilmer, dessen Rat Schulz gerne annahm, sieht Gefahren. "Martin Schulz' Problem ist, dass er durch seine lange europäische Karriere kaum Hausmacht im NRW-Landesverband und schon gar nicht in Berlin hat", sagt Hilmer. "Der Spiegel-Bericht dürfte ihm da kaum geholfen haben", glaubt er. Seine Kritik ist schonungslos. "Die SPD hat es im gesamten Wahlkampf und auch jetzt noch sträflich vernachlässigt, dem Hype um Martin Schulz wirklich auf den Grund zu gehen", schimpft Hilmer. Wer waren die Menschen, die den Sozialdemokraten und ihrem neuen Kanzlerkandidaten so viel Zuspruch gaben, was wünschen sie sich? "In den Antworten liegt der Schlüssel für die SPD."

Neben der Aufarbeitung ist nun der Blick nach vorn wichtig. Hilmer sieht in der Migrationspolitik eine Chance für die SPD. Weder die FDP noch die Grünen oder die Linken könnten Lösungsvorschläge anbieten wie eine Volkspartei, die Union sei in der Frage zerstritten. Ob das klappen kann? Unklar. Zumindest aber kann Schulz jetzt nicht mehr wie im Wahlkampf sagen: "Wenn ich nur wüsste, was ich falsch gemacht habe."

(jd)
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