Terrorverdächtiger in Chemnitz Wie konnte der Bombenbauer entkommen?

Berlin · Die wichtigsten Fragen zum brisanten Sprengstofffund in Chemnitz und zur Gefahr, die durch den geflohenen Verdächtigen ausging.

Mehrere hundert Meter weit war die Druckwelle zu spüren, als die Polizei den in einer Chemnitzer Wohnung gefundenen, hochgefährlichen Stoff in Erdlöchern kontrolliert sprengte. Weil der Hauptverdächtige sich jedoch zuvor mit einem Rucksack aus dem Staub machen konnte, bleiben Fragen.

Wer ist der Verdächtige?

Nach seinen Papieren ist es der Syrer Dschaber al Bakr, geboren am 10. Januar 1994 in Sasa, einem südlich der Hauptstadt Damaskus gelegenen Ort. Er soll im Februar 2015 illegal eingereist und von der Bundespolizei in Bayern aufgegriffen worden sein. Seit Juni 2015 ist er als Flüchtling anerkannt.

Wie fiel er auf?

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hüllt sich in Schweigen. Offenbar waren auch mehrere andere westliche Nachrichtendienste auf den 22-Jährigen aufmerksam geworden. Sicherheitskreise bestätigten, dass der Syrer seit "einiger Zeit" beobachtet worden sei. Nachbarn wollen eine Observierung in der Chemnitzer Straße Usti nad Labem bemerkt haben. Die Dienste bekamen jedenfalls mit, dass er damit begonnen hatte, Bestandteile für den Bombenbau zu besorgen.

Woraus bestand der Sprengstoff?

Nach Angaben des sächsischen Landeskriminalamts (LKA) wurden in der Wohnung Hunderte Gramm eines Sprengstoffs gefunden, der gefährlicher sei als TNT. Die Vermutungen gehen in Richtung TATP (Triazeton-Triperoxid), einer Mischung aus Aceton und einer wasserstoffperoxidhaltigen Lösung. Die relativ kostengünstigen Bestandteile sind recht leicht zu beschaffen, aber schwer zu mischen, da selbst kleinste Mengen tödlich sind. Die in Chemnitz gefundene Menge hätte ausgereicht, ähnlich verheerende Wirkungen wie in Paris und Brüssel zu erreichen. Auch dort setzten die Terroristen TATP ein. Außerdem stellte die Polizei Zünder sicher und Teile, die nach erster Bewertung zur Herstellung von Rohrbomben gedient haben könnten.

Wurde er vom IS zum Bombenbauer ausgebildet?

Die Mutmaßungen gehen in diese Richtung, weil der Umgang mit den brisanten Stoffen Erfahrung erfordert. Die Sicherheitsbehörden waren zunächst jedoch sehr zurückhaltend, was konkrete Beziehungen zur Terrormiliz Islamischer Staat anbelangt. Sicherheitskreise ließen sich lediglich auf einen "möglichen islamistischen Hintergrund" ein.

Wollte er einen Anschlag auf den Flughafen Schönefeld verüben?

Die Sicherheitsvorkehrungen wurden dort am Samstagnachmittag massiv verschärft. Die Polizei stoppte Passagiere und Abholer schon bei der Anreise. Flughäfen und Bahnhöfe gehören zu den typischen Anschlagszielen des islamistischen Terrors. Al Bakr hätte von Chemnitz aus zweieinhalb bis sechs Stunden bis Berlin gebraucht. Ob sich in der Wohnung Hinweise fanden, behielten die Behörden für sich. Im Vorfeld sollen konkrete Ziele nicht bekannt gewesen sein.

Wie konnte er entkommen?

Am Freitagabend hatte sich der Verfassungsschutz an Generalbundesanwalt und Bundeskriminalamt (BKA) gewandt. Obwohl das BKA die Hinweise als sehr plausibel ansah (Stufe zwei von acht, wobei eins höchste Glaubwürdigkeit bedeutet), übernahm die Bundesebene nicht. Das LKA bereitete daraufhin einen Zugriff für Samstagvormittag vor. Offenbar kam es zu einer Kommunikationspanne zwischen einem Mobilen Einsatzkommando und einem Spezialeinsatzkommando. Ob al Bakr Polizisten gesehen hatte oder zufällig mit einem Rucksack um 7.04 Uhr die Wohnung verließ, muss noch geklärt werden. Jedenfalls konnte auch ein Warnschuss ihn nicht stoppen. Die Befürchtung, al Bakr könne eine Waffe oder Sprengstoff dabei haben, ließ die Polizei eine Distanz halten, die der Verdächtige zur Flucht nutzte. Die Polizei verwies darauf, dass besondere Vorsicht geboten war, da das Gebäude noch nicht evakuiert war.

Führt eine Spur nach NRW?

"Wir sind vorbereitet, falls sich durch die polizeiliche Ermittlungsarbeit oder aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung etwas ergeben sollte", sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Die Polizei in NRW stehe mit den Kollegen in Sachsen und mit allen anderen Sicherheitsbehörden in engem Austausch. Bislang gebe es keine direkten Bezüge nach NRW.

Was sagen Sicherheitspolitiker?

Der Großeinsatz in Chemnitz zeige, dass die Sicherheitsbehörden "professionell arbeiten", erklärt SPD-Innenexperte Burkhard Lischka. Dass der Mann bereits im Visier der Dienste stand und ein möglicherweise geplanter Anschlag frühzeitig verhindert wurde, sei ein weiterer Beleg für die außerordentlichen Anstrengungen. Für den Unions-Innenexperten Stephan Mayer lässt sich an dem Fall ablesen, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten befreundeter Länder sei. Es werde klar, wie richtig es war, wieder persönliche Anhörungen bei sämtlichen syrischen Flüchtlingen vorzunehmen. Mayer verlangte, den Bundesnachrichtendienst und den Verfassungsschutz noch intensiver in die Überprüfung der Migranten einzubeziehen.

(hüw/may)
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