20 Jahre Mauerfall Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang

Düsseldorf (RP). Im Frühjahr 1989 wird die Grenze zwischen Ost und West plötzlich löchrig - weil Ungarn seine Grenzanlagen abbaut. Das erkennen die DDR-Bürger, die in Ungarn Urlaub machen: Sie bleiben einfach da und nutzen ihre Chance. Budapest widersteht dem Druck aus Ost-Berlin, die Grenze bleibt offen. 50000 Deutsche kommen so in den Westen.

Die Mode zum Mauerfall
8 Bilder

Die Mode zum Mauerfall

8 Bilder

Am Anfang sind Rost, Geldmangel und viele, viele Fehlalarme. 1987 beschweren sich ungarische Offiziere bei ihrer Regierung über den technischen Zustand der Grenzanlagen. Sie wollen nicht das Ende des Ostblocks. Sie wollen unnötige Einsätze vermeiden.

Der junge Budapester Ministerpräsident Miklos Nemeth streicht bei der Haushaltsplanung die Kosten für die Grenzsicherung ersatzlos. Er will nicht die deutsche Einheit befördern. Er will sparen.

Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der mächtigen Kommunistischen Partei der Sowjetunion, gibt im März 1989 den Ungarn die Erlaubnis zum Abbau der Grenzanlagen. Er will nicht das Ende der DDR. Er will Nemeth freie Hand lassen und die Nachbarschaft im Europäischen Haus fördern.

Die Geschichte des Jahres 1989 ist die Geschichte einer ungeheuren Beschleunigung. Kleine, aber überfällige Reformen münden in den Zusammenbruch eines länderübergreifenden politischen Systems. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetunion den Osten Europas mit ihren Truppen und verbündeten Parteien kontrolliert, jedes Aufmucken niedergeschlagen - in der Tschechoslowakei noch 1968. Doch wirtschaftlich-technisch hinkte der Ostblock dem Westen immer mehr hinterher. Gorbatschow wollte das Zwangssystem reformieren, mehr Freiheit und eigene Verantwortung zulassen. Ironie der Geschichte: Der Kollaps der DDR, die Gorbatschows Kurs am vehementesten ablehnte, beschleunigte in den nächsten Jahren auch den Zusammenbruch der Sowjetunion selbst.

Das ist Anfang 1989 aber noch nicht absehbar. Sicher: In Polen haben Lech Walesa und die katholische Kirche seit 1982 die Gewerkschaft Solidarnosc so stark gemacht, dass die Kommunisten 1989 zum ersten Mal bei einer Wahl in begrenztem Umfang auch nichtkommunistische Parteien zulassen müssen. In Ungarn, das sich - von hohen Auslandsschulden geplagt - 1984 dem Internationalen Währungsfonds angeschlossen hat, wird ebenfalls über neue Parteien und die Marktwirtschaft diskutiert. Aber dass die SED-Herrschaft enden würde, nachdem DDR-Bürger in Ungarn einen Riss in der Abriegelung des Ostblocks wahrgenommen hatten - das überraschte nicht nur Ungarns Entscheidungsträger.

In Ungarn kann jeder Bürger seit 1988 einen Pass beantragen und reisen, wohin er will. Das tun viele - und die meisten kommen auch zurück. Ungarn braucht keine Grenzsperren. Die gibt es noch, weil das Land zum Warschauer Pakt gehört. Die Sperren sollen Osteuropäer sowie Bürger der Sowjetunion und der DDR an der Flucht nach Österreich hindern. Deshalb ist etwa zwei Kilometer vor der Grenzlinie ein Drahtzaun-System mit elektrischen Meldevorrichtungen errichtet worden. Minen an der Grenze gibt es schon seit den 70er Jahren nicht mehr.

Der Zaun aber ist verrostet. Bei jedem Alarm rücken bis zu 400 Soldaten aus, weil wieder mal ein Tier einen Draht berührt hatte. Fast 99Prozent aller Alarme sind Fehlmeldungen. Weil die Sowjetunion die in den Zaun eingebauten Meldeanlagen nicht mehr herstellt, entschließt sich die ungarische Führung, den Zaun abzureißen. Soldaten sollen die Grenze sichern.

Am 13. Februar 1989 informiert der seit Ende November 1988 amtierende Ministerpräsident Nemeth auf seiner ersten Auslandsreise den österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky über den Plan, die Grenzsperren zu beseitigen. Erst zwei Wochen später holt er sich das Plazet von Gorbatschow. Anfang Mai beginnt dann der Abriss - mit Fernsehbildern.

Zwei Monate später, am 27. Juni 1989, lassen sich Ungarns Außenminister Gyula Horn und Österreichs Außenminister Alois Mock filmen, wie sie mit einer Drahtschere ein zuvor für die Aufnahmen restauriertes Zaunstück zerschneiden. Die Bilder gehen um die Welt. Nun wissen auch die DDR-Bürger, wo der Sperrriegel des Ostblocks durchlässig ist.

Nach Ungarn, einem der beliebtesten Feriengebiete des Ostblocks, können DDR-Bürger leicht reisen. Nun bleiben viele Urlauber einfach da, um einen Weg in den Westen zu finden. Die bundesdeutsche Botschaft und das Konsulat in Budapest sind bald überfüllt, eine Kirche wird - auf Kosten Bonns - zum Lager umfunktioniert. Auf Gehsteigen und in Parks kampieren fluchtwillige Deutsche, denen Budapester Bürger und internationale Organisationen helfen. Im August 1989 sind schätzungsweise 200000 DDR-Bürger in Ungarn.

Nach dem Vertragsrecht des Ostblocks müsste Ungarn die DDR-Bürger zurückschicken. Aber damit tut sich die Regierung schwer. Sie hat ein eigenes Flüchtlingsproblem. In Rumänien werden Angehörige der ungarischen Minderheit seit Jahren vom Ceausescu-Regime drangsaliert - etliche fliehen nach Ungarn. Um sie nicht zurückschicken zu müssen, hat Ungarn im März 1989 die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, die politische Flüchtlinge schützt. Das Genfer Recht gilt jetzt auch für DDR-Bürger in Ungarn. Ost-Berlin schickt Delegationen und Stasi-Leute. Fleht. Droht. Aber kaum ein DDR-Bürger muss zurück. Wer von ungarischen Soldaten an der Grenze zu Österreich festgenommen wird, bekommt einen Stempel auf einem Papier, das lose in den DDR-Pass eingelegt wird - und sofort weggeworfen werden kann. Manchmal gibt es auch einen Flucht-Tipp.

Am 19. August wird ein Ventil geöffnet. Bürger aus ungarischen und österreichischen Grenzorten haben ein Grenzpicknick bei Sopron vorbereitet und Unterstützer gefunden: Die Paneuropa-Union des österreichischen Kaisersohns Otto von Habsburg, ungarische Oppositionelle und den Nemeth nahestehenden Reformkommunisten Imre Pozsgay. Für das Picknick ist eine kurzzeitige Öffnung der Grenze vereinbart worden. Ministerpräsident Nemeth will testen, ob die Sowjet-Truppen eingreifen werden. Kurz vor dem Termin kursieren in Budapest und am Plattensee Flugblätter in deutscher Sprache, die die Grenzöffnung ankündigen.

Der Test gelingt. Ungarns Grenzsoldaten - nur über das Picknick informiert - sehen sich plötzlich vielen DDR-Flüchtlingen gegenüber. Und sie sehen weg. Mehr als 1300 DDR-Bürger flüchten am 19. und 20. August in den Westen.

Tags darauf, die Grenze ist wieder geschlossen, kommt es zu einem Zwischenfall. Ein DDR-Flüchtling stirbt nach einem Kampf mit einem Grenzsoldaten. Eine grundsätzliche Regelung der Flüchtlingsfrage ist nötig, das zeigt sich jetzt. Die Sowjetunion, geplagt von Unruhen im Baltikum, dem Konflikt zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan, einer neuen Oppositionsbewegung in der Ukraine und der Tatsache, dass in Polen erstmals ein nicht-kommunistischer Premier agiert, lässt den Ungarn freie Hand. Erst im Januar 1990 - so schildert es Andreas Oplatka in seinem detailreichen Buch "Der erste Riss in der Mauer" - erkennt Moskau, was die ungarische Grenzöffnung für die DDR bedeutet.

Ost-Berlin kann auf Ungarn keinen wirtschaftlichen Druck ausüben. Am 22. August 1989 beschließt die ungarische Regierung, die DDR-Deutschen frei abziehen zu lassen. Sie stellt sich bewusst auf die Seite der Bundesrepublik.

In der Nacht zum 24. August werden 108 Flüchtlinge, die in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest Zuflucht gefunden haben, nach Wien ausgeflogen. Am 25. August werden Nemeth und Horn in Schloss Gymnich bei Bonn von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher empfangen. Über die wichtigste Frage, die dort verhandelt wird, gibt es kein Protokoll. Nemeth und Kohl erklären im Rückblick, Ungarn habe die permanente Öffnung seiner Grenze zugesagt. Bis Mitte September sollen alle DDR-Bürger ausreisen können.

Kohl ruft anschließend Österreichs Kanzler Vranitzky an und fragt, ob Wien mit der Durchreise der Deutschen einverstanden sei. Und er informiert Gorbatschow. Nach einigem Hin und Her und weiteren Einsprüchen Ost-Berlins gibt Ungarns Außenminister Horn am 10.September um 19 Uhr im Fernsehen die Öffnung der Grenze für den 11. September, null Uhr bekannt. Kohl, der gerade einen CDU-internen Machtkampf gewonnen hat, kann die Öffnung am Presseabend des CDU-Parteitags in Bremen triumphierend verkünden. Bis zum 15. September kommen 13600 DDR-Bürger über die österreichische Grenze, bis zum 5. November sind es rund 50 000 Menschen.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort