Neue Zwischenbilanz des Stasi-Unterlagenbeauftragten Viele DDR-Geheimnisse sind noch nicht enthüllt

Berlin · Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist das Interesse an den Stasi-Akten ungebrochen, ja es steigt sogar noch. 2013 zählte Unterlagenbeauftragter Roland Jahn 64.246 Anträge, ein Jahr später waren es dreieinhalbtausend mehr. Täglich gehen gut 5000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht ein. Und möglicherweise stehen die spannendsten Erkenntnisse noch aus.

 Roland Jahn bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts der Stasi-Unterlagenbehörde.

Roland Jahn bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts der Stasi-Unterlagenbehörde.

Foto: dpa, bvj htf

Jahn und seine Mitarbeiter verfügen nicht nur über Abermillionen Akten, Dokumente und Aufzeichnungen von insgesamt 111 Kilometern Länge, die durch immer ausgeklügeltere Archivsysteme nachvollziehen lassen, wie das Ministerium für Staatssicherheit in das Leben von unzähligen Menschen in der DDR und in vielen anderen Ländern eingegriffen hat. Es sind noch viele unerforschte Seiten mehr.

Denn als es mit der Diktatur 1989 zu Ende ging, schickten die Stasileute die aktuell bearbeiteten und brisantesten Akten zu Millionen in den Reißwolf. Vor der Verbrennung konnten rund 15.000 prall gefüllte Säcke sichergestellt werden. Seitdem läuft auch der Versuch, die Schnipsel wieder zu Seiten zusammenzufügen. Sage und schreibe 1,53 Millionen Blätter sind so inzwischen wieder entstanden. Aber: Sie machen gerade mal 500 Säcke aus. 97 Prozent sind also noch unerschlossen.

Pilotprojekt einer automatischen Zusammenfügung

Was steckt drin? Jahn erinnert an die späten Erkenntnisse über westdeutsche RAF-Terroristen wie Silke Maier-Witt, denen die Stasi unter falscher Identität Unterschlupf in der DDR verschaffte. Oder an den Berliner Unirektor Heinrich Fink, dessen frühere Spitzeltätigkeit aus den Schnipseln zum Vorschein kam.

Mehr Details erfahren die Forscher auch über die Vorbereitungen der DDR auf einen Krieg mit der Bundesrepublik. Und jeder Westdeutsche, der seinerzeit in Hotels oder auf Campingplätzen der Tschechoslowakei in Kontakt mit DDR-Bürgern kam, muss damit rechnen, von den Stasi-Leuten beobachtet und registriert worden zu sein. Auch das findet sich in den neu zusammen gefügten Unterlagen.

Langsamer als vermutet kommt das Pilotprojekt einer automatisierten Zusammenfügung voran. Die Computerprogramme können zwar Handschriften, Papiersorten, Schnittränder und weitere Merkmale beim Scannen der Schnipsel wahrnehmen und zusammen bringen. Doch mehr als 24.000 Seiten sind auf diese Weise noch nicht rekonstruiert. Der Bundestag hat jetzt noch mehr Mittel bereitgestellt, um dieses Projekt zu forcieren. Parallel hat er aber auch schon Überlegungen gestartet, ob die Stasi-Unterlagenbehörde überhaupt erhalten bleiben oder ob man die Bestände zum Beispiel einfach ins Bundesarchiv integrieren soll.

Jahn: Viele werden von Kindern und Enkeln befragt

Der Bedarf, die Akten intensiv zu studieren, ist jedenfalls ungebrochen. Eine neue Generation ist herangewachsen und will selbst wissen, wie das damals war in ihrer eigenen Familie. Nicht wenige erklären laut Jahn auch, dass sie erst einen Abstand zum Geschehen gebraucht hätten, um sich der Vergangenheit zu stellen.

"Viele kommen jetzt in ein Alter, in dem sie die Zeit haben, ihr Leben zu reflektieren", erläutert Jahn. Etliche würden auch von ihren Kindern und Enkeln befragt. Insofern könne die Stasi-Unterlagenbehörde helfen, den Dialog zwischen den Generationen über die Vergangenheit zu fördern.

Die Erkenntnisse dienen zudem der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Mechanismen von politischen Systemen. Besucher aus 40 Staaten machten sich bei der Jahn-Behörde kundig, wie Diktaturen funktionieren und wie sie trotzdem in die Knie gezwungen werden können. Zusätzliches Interesse löste nach Jahns Beobachtung auch die Beschäftigung mit der Daten-Sammelwut der amerikanischen Geheimdienstbehörde NSA aus — die vom Anspruch her der Stasi nicht unähnlich ist: "Wir müssen alles wissen."

"Brauchen eine differenzierte Betrachtung"

Veröffentlichungen wie die der früheren PDS- und jetzigen SPD-Politikerin Angela Marquardt werfen zudem den Blick auf neue Aspekte, hier also auf den Missbrauch von Minderjährigen als Informelle Mitarbeiter. Natürlich hätten auch 17-Jährige eine Verantwortung für ihr tun, merkt Jahn dazu an. Doch es gehe auch darum, wer die Verantwortung für ein System trage, die Minderjährige verführte, ihre Familien und Freunde zu verraten.

In einer Mischung aus Überraschung und Faszination nehmen viele Menschen zudem wahr, wie Jahn selbst mit dem Thema umgeht. Statt anklagend die Erinnerung an das Schlechte im DDR-System und an die menschlichen Abgründe wach zu halten, ist er als Brückenbauer unterwegs. Ausgerechnet er, der massiv Widerstand leistete, von der Stasi verfolgt und gegen seinen Willen in den Westen abgeschoben wurde, hat sein jüngstes Buch "Wir Angepassten" genannt.

"Wir brauchen eine differenzierte Betrachtung", betont Jahn. Es habe auch bei den Kritikern des Systems nicht nur Widerstand gegeben, auch diese hätten sich immer wieder angepasst. Das alles gehöre dazu, um zu verstehen, wie eine Diktatur funktioniert — und worauf man besonders achten muss, damit eine Demokratie nicht in Schieflage gerät.

(may-)
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