SPD-Politiker stößt Debatte an Wahlpflicht — warum eigentlich nicht?

Düsseldorf (RPO). Wohl mit Bedacht hat der SPD-Abgeordnete Jörn Thießen eine Einführung der Wahlpflicht gefordert, Strafenkatalog bei Nichtbefolgen inklusive. Es geht ihm darum eine Debatte anzustoßen, die sich mit demokratischen Rechten, aber auch Pflichten auseinandersetzt.

 Der SPD-Abgeordnete Jörn Thießen fordert eine Einführung der Wahlpflicht.

Der SPD-Abgeordnete Jörn Thießen fordert eine Einführung der Wahlpflicht.

Foto: screenshot

Hinzu kommt: So abwegig ist sein Vorstoß nicht. Denn die Pflicht zum Wählen hat sich in mehreren Demokratien durchaus bewährt.

Anlass für Thießen bietet die für viele erschreckend schlechte Beteiligung der Deutschen an der Europawahl am vergangenen Wochenende. Gerade einmal 43 Prozent haben in den Wahllokalen ihre Stimme abgegeben. Thießen sagte daraufhin der "Bild"-Zeitung: "Wir Politiker müssen im Parlament abstimmen — das kann man auch von den Wählern bei einer Wahl verlangen."

Damit ist es noch nicht getan. Um der Verpflichtung zum Wählen Nachdruck zu verleihen, bringt Thießen eine Sanktionierung ins Spiel: Wer nicht zur Wahl geht, soll 50 Euro Strafe zahlen. "Demokratie ohne Demokraten funktioniert nicht", sagte der Abgeordnete.

Der Vorstoß löst Empörung aus. Viele Leser haben sich per Kommentar zu Wort gemeldet. Einige wenige argumentieren sachlich. Sie sähen sich durch eine Wahlpflicht in ihren Freiheitsrechten verletzt. "Wir leben in einem freien Land, mit mündigen Bürgern, die selber entscheiden können, ob sie zur Wahl gehen wollen oder nicht", schreibt einer.

Frust, Sarkasmus, Kopfschütteln

Die meisten aber üben sich in Zynismus, haben für Thießens Vorschlag nur sarkastische Scherze übrig. Dazu gehören Vergleiche mit diktatorischen Regimes, aber auch die Frage, warum man denn bitteschön noch wählen gehen solle, wenn die Politiker ja doch machen, was sie wollen. So wie sie dort ihren Frust ablassen, zählen sie offensichtlich zur Gruppe der Politikverdrossenen, Nicht- oder Protestwähler.

Ganz ähnliche Reaktionen beobachtet auch Thießen selbst. In seinem Videoblog hält er einen Stapel mit ausgedruckten E-Mails in die Kamera, die meisten davon eher kritisch-unfreundlicher Art, wie der schleswig-holsteinische SPD-Abgeordnete erläutert. In dem selbstgefilmten Video begrüßt er aber diese kritischen Stimmen ausdrücklich. Sie ermöglichen ihm einen Einblick in die Sichtweisen ebenjener Nichtwähler, die die Politik schon lange nicht mehr erreicht.

Normalität in anderen Demokratien

Auf den ersten Blick erscheint Thießens Forderung wie eine völlig abstruse, vorzeitige Sommerloch-Ente, die sich irgendein Hinterbänkler ausdenkt, der unbedingt einmal nach vorne in die Schlagzeilen will. Doch wirft man einen Blick ins Ausland, wird deutlich, dass die Idee so abgehoben gar nicht ist. So zählt die Wahlpflicht unter anderem in Belgien, Luxemburg, Griechenland, der Türkei oder auch Italien zur politischen Normalität.

Bemerkenswert sind die Ursprünge der Wahlpflicht in Australien. Eingeführt wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg. Im Krieg waren tausende Australier gefallen. Die daraufhin eingeführte Wahlpflicht ist eine Verneigung vor den Männern, die mit ihrem Leben für Freiheit und Demokratie teuer bezahlt haben.

Sogar Sanktionen wie Thießen sie fordert gibt es. So bekommen griechische Nichtwähler im Wiederholungsfalle kein Reisepass mehr ausgestellt. In der Türkei und Argentinien drohen nach Angaben auf Wikipedia empfindliche Geldbußen von bis zu 500 Dollar. In Ägypten ist rein rechtlich sogar eine Gefängnisstrafe möglich.

Die Argumente

Befürworter argumentieren, dass Wählen in Demokratien eine ähnlich staatsbürgerliche Pflicht sei, wie etwa das Steuerzahlen oder der Wehrdienst. Niemandem schade es, sich einmal mit politischen Zukunftsfragen auseinanderzusetzen, der Demokratie schade das Nicht-Wählen hingegen sehr. Zudem soll eine Wahlpflicht verhindern, dass eine Minderheit der Bevölkerung über die Geschicke des ganzen Landes bestimmt. Zudem würden bei geringerer Wahlbeteiligung Proteststimmen für radikale Strömungen übermäßig repräsentiert werden.

Der Politikwissenschaftler Andreas Blätte von der Universität Duisburg-Essen hält die Forderung nach einem Zwang zum Wählen in Deutschland jedoch für illusorisch. "Das hat keine Realisierungschancen", sagt Blätte unserer Redaktion und sucht die Auslöser solche Vorschläge lieber im Wahlfrust der SPD. Zudem sei in Deutschland der Gang ins Wahllokal als gesellschaftliche Norm immer noch stark ausgeprägt. Jeder der mit dem Hintern zuhause bleibe, habe zumindest ein schlechtes Gewissen.

Blätte hält es lieber mit den Gegnern der Wahlpflicht und deren Argumenten aus dem Fundus einer freiheitlich-liberalen Weltanschauung: "Die Wahl zu haben, bedeutet auch, nicht zur Wahl zu gehen", sagt Blätte. Statt einer gesetzlichen Verpflichtung zur demokratischen Teilhabe sieht er vielmehr die Politik in der Bringschuld, die es versäumt habe, dem Wähler die Bedeutung der Europawahlen zu vermitteln.

In dieselbe Kerbe schlägt auch die Initiative "Mehr Demokratie". "Das sind rein kosmetische Lösungsvorschläge", erklärte die Vorstandssprecherin der Initiative, Claudine Nierth, am Dienstag in Berlin. Volksabstimmungen zu europapolitischen Fragen seien ein weit besserer Weg, das Interesse der Bürger an der EU zu fördern. "Die Menschen interessieren sich nur dann für Europa, wenn sie das Gefühl haben, tatsächlich etwas bewegen zu können."

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