Streit um Groko-Mitgliederentscheid Warum viele Vorwürfe gegen die SPD unfair sind

Düsseldorf · Mehr als 460.000 SPD-Mitglieder stimmen darüber ab, ob Deutschland endlich eine neue Regierung bekommt. Man könnte das für verfassungswidrig, unfair oder undemokratisch halten. Doch das wäre falsch.

 Seit Dienstag können die Parteimitglieder abstimmen. (Symbolbild)

Seit Dienstag können die Parteimitglieder abstimmen. (Symbolbild)

Foto: dpa, pst kno

Wollte man die Lage der SPD beschreiben, so könnte man einfach auf einen Spruch von Andreas Brehme zurückgreifen. "Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß", sagte der Weltmeister von 1990 einst. Was auch immer ein Sozialdemokrat aufrichtet, wirft ein anderer um. Selbst das Mitgliedervotum über den Eintritt in eine große Koalition verläuft nicht reibungslos. Die einen werfen der Partei vor, den Wahlunterlagen noch ein dreiseitiges Werbeschreiben für die Groko beigelegt zu haben, die anderen halten das Verfahren an sich für undemokratisch. Und dann schreibt die "Bild", dass sogar ein Hund abstimmen könne. Das Springer-Blatt hatte einen Hund als SPD-Mitglied angemeldet und nun Wahlunterlagen für "Lima" erhalten. Laut "Bild" ein Beleg für die leichte Manipulierbarkeit des Votums.

Mehr als eine Posse ist das nicht

Man sollte das nicht zu ernst nehmen. Selbstverständlich kann ein Hund nicht Mitglied der SPD sein. Die designierte Parteichefin Andrea Nahles drohte der Zeitung sogar mit rechtlichen Schritten. "Es wird kein Hund an dem Mitgliederentscheid teilnehmen", sagt sie. Mehr als eine Posse ist das nicht. Mit den übrigen Vorwürfen ist das nicht ganz so einfach. Auch wenn Sigmar Gabriel 2013 rechtliche Bedenken am Mitgliedervotum mit der Lakonie von Andreas Brehme als Blödsinn bezeichnet hat.

Der Hauptvorwurf gegen die SPD ist, dass das Votum der repräsentativen Demokratie widerspreche. Das Volk wählt Abgeordnete, die wiederum die Regierung wählen. Dazwischen, heißt es, schalte die SPD nun Parteimitglieder, deren Votum den Wählerwillen verfälsche. Die Abgeordneten sind nach dem Grundgesetz Vertreter des ganzen Volkes, in ihren Entscheidungen frei und ausschließlich ihrem Gewissen unterworfen. Wenn nun einfache Parteimitglieder bestimmten, wen die Parlamentarier zum Kanzler wählen, dann würde dieses Prinzip unterlaufen. Ein einfaches, nicht gewähltes Parteimitglied, lege das Wahlverhalten der Fraktion fest. Die SPD, so ist die Kritik zu verstehen, betrachte die Abgeordneten nicht als Abgeordnete des Volkes, sondern als Abgeordnete der Partei.

Kein staatlicher Akt

Vor vier Jahren hat das Bundesverfassungsgericht die Urabstimmung der SPD zugelassen. Auch diesmal beschäftigen sich die Karlsruher Richter mit dem Votum, einige Anträge haben sie bereits zurückgewiesen. Es spricht wenig dafür, dass das Verfassungsgericht die SPD aufhält. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Gericht die Abstimmung nicht als einen staatlichen Akt begreift. Es handele sich um eine innerparteiliche Angelegenheit, schrieb es 2013. Die Abgeordneten seien nicht an das Votum gebunden. Martin Morlok, Parteienrechtler aus Düsseldorf, sagt: "Ich habe keine verfassungsrechtlichen Bedenken."

Zugegeben, die Argumentation des Gerichts klingt etwas weltfremd. Es ist unwahrscheinlich, dass die SPD-Abgeordneten auf das Votum der Parteibasis pfeifen. Sie werden das Ergebnis, Groko oder nicht, wohl eher nicht als eins von vielen Argumenten in ihrer Abwägung begreifen, sondern sie werden sich - jedenfalls in der deutlichen Mehrzahl - daran halten. Das aber ist nicht schlimm. Denn, dass Mitglieder des Bundestages sich an ihrer Partei orientieren, ist parlamentarischer Alltag. Das ist auch schon deshalb nicht illegitim, weil sie auch wegen ihrer Parteizugehörigkeit gewählt werden.

Es käme kein einziges Gesetz zustande

In Artikel 38 des Grundgesetzes steht, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Die Vorstellung, dass sie deshalb ihre Entscheidung nur mit sich selbst ausmachen, ist ebenfalls weltfremd. "Die Abgeordneten müssen nicht nur in ihre Brust hineinhören", sagt Martin Morlok. Überall sind Abgeordnete Einflüssen ausgesetzt. Sie sprechen mit Bürgern im Wahlkreis, lesen Zeitung und Foren im Internet, treffen Lobbyisten von Daimler oder VW - und eben ihre Parteifreunde. Das darf man an der einen oder anderen Stelle bedauerlich finden, aber viel anders lässt sich eine Vertretung des "ganzen Volkes" nicht bewerkstelligen. So ist überhaupt erst die Funktionsfähigkeit des Bundestages gesichert. Nur weil sich Abgeordnete in Fachfragen, etwa bei der Rente, auf ihre Partei- und Fraktionskollegen verlassen, geht es. Man darf die Fraktionsdisziplin problematisch finden, also dass sich die Parlamentarier am Votum ihrer Fraktion orientieren, aber wenn jeder Abgeordnete jede Frage nur mit seinem Gewissen ausmachte, käme kein einziges Gesetz mehr zustande.

Was sollte sie denn sonst tun?

Das Prinzip der repräsentativen Demokratien schließt Parteien nicht aus, sondern ein. "Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit", heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes. Es sind die Parteien, die Sondierungsgespräche führen, die sich für Koalitionsverhandlungen entscheiden, und eben auch für oder gegen eine Regierung. Die Parteien wurden gewählt, also verhandeln sie auch. Und wenn sie sich nun in einer Lage befinden wie die SPD, dann dürfen sie nicht nur ihre Mitglieder befragen, sie müssen das tun. Die Partei kämpft schließlich ums Überleben. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass die Parteiführung die Mitglieder fragt, ob sich die SPD erneut auf dem Altar der Staatsräson opfern soll? Was sollte sie denn sonst tun?

Sie könnte es wie CDU und CSU machen, die Parteitage fragen. Da stimmen geschätzte 600 Parteimitglieder über den Eintritt in die Regierung ab. Wer das für unproblematisch hält, der kann sich am Mitgliedervotum der SPD nur schwer reiben. Das Verfahren der Sozialdemokraten ist rechtlich zulässig und politisch sinnvoll. Wann hat zuletzt eine Partei in Deutschland so beherzt über eine inhaltliche Frage gestritten, wie die SPD jetzt? Der Streit, der emotionale Austausch von Argumenten, gehört zum Wesen der Demokratie. Am Ende aber muss jemand entscheiden. Bei der SPD sind das die Mitglieder.

(her)
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