Vorratsdatenspeicherung Was sich durch das Urteil ändert

Karlsruhe (RP). Der im März ausscheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat mit seinem Ersten Senat dem Gesetzgeber noch einmal die Macht des höchsten Gerichts demonstriert. Welche Folgen hat das Urteil für die Strafverfolgung und die deutsche Telekommunikationsbranche?

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Foto: AP

Ein letztes Mal vor Eintritt in den Ruhestand hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, die Macht Karlsruhes gegenüber der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) aufgezeigt. Papier erklärte gestern in seiner Funktion als Vorsitzender des achtköpfigen Ersten Senats nichts weniger als dies: Bestimmungen zur Vorratsdaten-Speicherung in dem 2007 von der damals regierenden großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossenen, seit 1. Januar 2008 geltenden Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung (TKG) seien verfassungswidrig und nichtig.

Welche unmittelbare Folge hat das?

"Nichtig" bedeutet mehr als bloß "unvereinbar mit dem Grundgesetz". Es heißt — und das war überraschend bei der Verkündung des Urteils zur befristeten Speicherung von Telefon- und Internetverbindungen — dass die gesammelten Handy-, Festnetznummern, E-Mail-Verbindungen unverzüglich gelöscht werden müssen. Es gibt keine Übergangsfristen, in denen die Regelungen bis zur Gesetzes-Neufassung weiter gelten.

Artikel 10 Grundgesetz (Unverletzlichkeit des Brief-, Post-, Fernmeldegeheimnisses): Die mit rund 35 000 Verfassungsbeschwerden (darunter war auch die der heutigen FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger) beanstandeten Regelungen zur "sechsmonatigen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung" seien mit Artikel 10 GG unvereinbar.

Warum ist VorratsdatenSpeicherung so problematisch?

Laut Gericht handelt es sich dabei um einen besonders schweren Eingriff von einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kenne. Auch wenn sich die Vorratsdaten-Speicherung nicht auf die Inhalte der Gespräche und E-Mails erstrecke, ließen sich bis in die Intimsphäre hinein Rückschlüsse ziehen. Adressaten, Daten, Uhrzeit, Ort von Telefongesprächen erlaubten, wenn sie über einen längeren Zeitraum beobachtet würden, detaillierte Aussagen zu gesellschaftlichen, politischen Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlieben, Neigungen, Schwächen. Je nach Nutzung könne eine Speicherung aussagekräftige Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers ermöglichen.

Gibt es eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Vorratsdaten-Speicherung?

Ja. Sie setzt die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit voraus, der laut Gericht im TKG missachtet wurde. Der Bürger dürfe nicht total erfasst und registriert werden. Damit Vorratsdaten-Speicherung mit Artikel 10 vereinbar bleibt, müssten "normenklare", verbindliche Regelungen gefunden werden. Die Datensicherheit sei von großer Bedeutung.

Datenverwendung:

Sie sei nur verfassungskonform, wenn es um "überragend wichtige Aufgaben des Rechtsgüterschutzes" gehe. Ein Datenabruf zur Strafverfolgung verlange einen "durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer auch im Einzelfall schwerwiegenden Straftat". Der Gesetzgeber müsse Straftatbestände abschließend festlegen.

Gefahrenabwehr:

Datenverwendung zum Zweck der Gefahrenabwehr setze voraus, dass "eine durch bestimmte Tatsachen hinreichend belegte konkrete Gefahr" für Leib, Leben, Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr gegeben sei. Eine Datenverwendung durch Nachrichtendienste dürfte laut Gericht in vielen Fällen ausscheiden.

Transparenz:

Das Gericht verlangt ein neues Gesetz, in dem Übermittlung und Nutzung gespeicherter Daten unter Richtervorbehalt gestellt werden. Soweit die Datenverwendung heimlich erfolge, habe der Gesetzgeber die Pflicht, eine nachträgliche Benachrichtigung vorzusehen.

Mittelbare Datennutzung:

Bei Auskünften zu Internetprotokolladressen gilt laut Karlsruhe kein so strenger Maßstab, weil IP-Daten begrenzte Aussagekraft hätten und eine systematische Ausforschung nicht möglich sei.

Wie die Branche nun vorgeht

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat unmittelbare Auswirkungen auf die deutschen Telekommunikationsanbieter. Ein Sprecher der Telekom fasst das weitere Vorgehen seines Unternehmens zusammen: "Wir geben ab sofort bei Behörden-Anfragen keine Auskunft zu Vorratsdaten mehr, wir speichern keine Vorratsdaten mehr und werden die seit Inkrafttreten des Gesetzes gespeicherten Informationen unverzüglich löschen. Weitere konkrete Auswirkungen des Urteils müssen wir jedoch zunächst prüfen."

Der Internetprovider 1&1 begrüßt das Urteil des Verfassungsgerichts: "Wir werden die Datenspeicherung in den nächsten Tagen abbrechen. Ein Wermutstropfen ist der Betrag von knapp zwei Millionen Euro, den wir anfangs in die nötige Infrastruktur investiert haben", sagte ein Sprecher des Online-Dienstleisters.

Der für die Datenspeicherung bisher betriebene Aufwand sei immens, heißt es auch bei Vodafone. Dennoch: "Wir stellen die Speicherung und Beauskunftung sofort ein. Obwohl wir insgeheim mit einer Folgeregelung rechnen."

Die Bundesnetzagentur als die Datenspeicherung überwachende Behörde hielt sich gestern bedeckt. Man wolle erst einmal abwarten, welche Schritte das verantwortliche Bundeswirtschaftsministerium nun unternehme.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gab derweil bereits bekannt, bei der "Neuformulierung des Gesetzes zur Vorrats-Speicherung die Branche nicht mehr als nötig belasten zu wollen".

(RP)
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