Große Koalition Deutschland wird im kleinen Kreis regiert

Berlin · Mindestlohn, doppelte Staatsbürgerschaft, Asylrecht – kurz vor der Sommerpause des Bundestages bringt die große Koalition noch jede Menge Gesetzesvorlagen durch das Parlament. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse sind selbst bei ungeliebten Vorhaben Abstimmungsniederlagen gering. Regiert wird Deutschland aber vor allem im kleinen Kreis.

 Die drei Parteichefs der großen Koalition: Horst Seehofer (CSU), Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD).

Die drei Parteichefs der großen Koalition: Horst Seehofer (CSU), Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD).

Foto: dpa, tba pil Ken tba

Mindestlohn, doppelte Staatsbürgerschaft, Asylrecht — kurz vor der Sommerpause des Bundestages bringt die große Koalition noch jede Menge Gesetzesvorlagen durch das Parlament. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse sind selbst bei ungeliebten Vorhaben Abstimmungsniederlagen gering. Regiert wird Deutschland aber vor allem im kleinen Kreis.

Das Telefon ist auf laut gestellt, im Hintergrund sind die Stimmen von Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel zu hören. Die Parteichefs von CDU, CSU und SPD haben sich im Kanzleramt nochmal über den Gesetzentwurf zum Mindestlohn von 8,50 Euro gebeugt. Im Arbeitsministerium sitzt Ressortchefin Andrea Nahles (SPD) mit engen Mitarbeitern und nimmt Änderungswünsche entgegen. "Wir müssen bei den Langzeitarbeitslosen noch was regeln", heißt es. Dann werden bei Pizza die per Telefon eingegangenen Wünsche eingearbeitet, bevor Nahles den Entwurf am nächsten Tag öffentlich vorstellen darf.

Deutschland wird regiert. Im sehr kleinen Kreis. Dieses Muster, dass die drei Taktgeber das Wichtigste unter sich ausmachen, zieht sich wie ein roter Faden seit den Koalitionsverhandlungen durch die große Koalition. Schon am entscheidenden letzten Verhandlungstag Ende November war das so. Überraschend wurde verbreitet: Die große Runde von Union und SPD kommt nicht zusammen. Es tage zunächst nur die kleine Verhandlungsrunde der Parteispitzen. Es gehe um den Streit über Renten, Finanzen und Mindestlohn — die Stimmung sei sehr ernst.

Ein Beispiel: der EU-Postenpoker

Über 70 Spitzenpolitiker mussten im Willy-Brandt-Haus dann sehr lange warten, am Ende durften sie am nächsten Morgen um kurz vor sechs noch den Vertrag abnicken. Die Drei lösten in einem Verhandlungsmarathon Schritt für Schritt die Knackpunkte in kleiner Runde. Sigmar Gabriel schätzt Merkel wie Seehofer. Alle Drei halten dicht, nach ihren Treffen werden meist nur Belanglosigkeiten verbreitet, etwa: "ruhiges Gespräch in guter, lösungsorientierter Atmosphäre". Das Wichtige bleibt geheim — gerade Gabriel muss nach den Verwerfungen der Affäre um den früheren SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy bei der Union Vertrauensbeweise abliefern.

Bisher hat kein Koalitionsausschuss unter Einbeziehung der Fraktionsspitzen und Generalsekretäre stattgefunden. Da bleibe ohnehin nichts geheim, es könnten keine Absprache getroffen werden, ohne dass sie wenig später über die Medien verbreitet würden, heißt es im Kanzleramt. So könne man schlecht eine Problematik wie den Mindestlohn, das Rentenpaket und die Ökostrom-Reform lösen.

Eine Lehre aus schwarz-gelben Zeiten? Kaum saßen die Unions- und FDP-Spitzen zusammen, ging die Simserei los — Merkel dürfte den kleinen Kreis bevorzugen. So gelang es auch, den Postenpoker nach der Europawahl halbwegs geräuschlos zu lösen. Statt eines EU-Kommissarspostens gab sich Gabriel damit zufrieden, dass Martin Schulz wieder Parlamentspräsident wird. Die Partei folgte der Linie.

Altmaier, der wandelnde Vermittlungsausschuss

Jede Koalition braucht einen Krisenmanager. In Merkels dritter Kanzlerschaft ist das Peter Altmaier, zuvor war er Umweltminister. Das wäre er gern geblieben, er vermisst diese viel öffentlichere Bühne. Aber Merkel ordnete den Wechsel des kommunikativen, vieler Sprachen mächtigen Saarländers auf den Posten des Kanzleramtschefs an. Ein Höllenjob, den nicht viele machen wollen und nur wenige können. Altmaier muss in jedes Thema eingearbeitet sein. 44 Gesetzentwürfe waren es bisher. Von Vorteil ist, dass sich Altmaier zum Beispiel gut mit SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann versteht.

Bundesminister: Das Kabinett der großen Koalition
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Das Kabinett der großen Koalition

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Das hilft, wenn Altmaier etwa im Streit um die Rente ab 63 bei 45 Beitragsjahren und die Mütterrente eingreifen musste. Altmaier hat die Fähigkeit, als wandelnder Vermittlungsausschuss stets einen gesichtswahrenden Kompromiss anzustreben. Vorgänger Ronald Pofalla war da ruppiger und beschimpfte auch schon mal Abweichler in eigenen Reihen. Merkel hat zudem einen kurzen Draht zu Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU), sie seien täglich in Kontakt, heißt es. Montag CDU-Präsidiumssitzung, Dienstagnachmittag Fraktionssitzung, Mittwochmorgen Unionsrunde vor der Kabinettssitzung, Donnerstag und Freitag Feinabstimmung, am Wochenende Ausblick auf die Woche.

Dazwischen greifen sie immer wieder zum Handy. "Sie sprechen ständig", heißt es in Kauders Umfeld — er muss die Mehrheiten im Parlament organisieren. Er übe seinen Einfluss auch ohne Koalitionsausschuss aus. Gleiches gilt auf SPD-Seite für Thomas Oppermann — bei ihrem Koalitionsfrühstück am Dienstagmorgen identifizieren beide Fraktionschefs die Streitpunkte. "Auf Thomas Oppermann kann ich mich zu 100 Prozent verlassen", so Kauder.

Gefahr, Koalitions-Abgeordnete zu frustieren

Aber die übergroße Mehrheit im Bundestag birgt auch bedenkliche Demokratiedefizite — Grüne und Linke hatten keine Möglichkeit, die mit Änderungen in letzter Minute versehene Ökostromreform zu stoppen, Anträge auf zusätzliche Anhörungen wurden abgelehnt. Das Ergebnis: Fehler im Gesetzestext, die nun mühsam wieder korrigiert werden können. Das Durchpauken von Vorhaben entfremdet zunehmend gerade die Grünen von der SPD. Ein langjähriger Spitzenbeamter kritisiert zudem, dass Absprachen immer häufiger per SMS oder auf anderen kurzen Dienstwegen getroffen würden, statt auf die Expertise des Apparates zu vertrauen. So entstünden halbgare Kompromisse und Fehler.

Bei einer Mehrheit von fast 80 Prozent im Bundestag ist die Gefahr von Abstimmungsniederlagen auch bei ungeliebten Vorhaben zwar gering, die Wahrscheinlichkeit aber hoch, viele Koalitions-Abgeordnete massiv zu frustrieren. Der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger sagt: "Auf das Rentenpaket kann man nicht stolz sein. Das ist Murks." Die Bundestagsabgeordneten hätten mit ihrem Mandat enorme Möglichkeiten. "Ich staune, was sie daraus machen", sagt Steiger.

Bisher halten die Architekten eisern den Laden zusammen — aber eine Garantie für vier Jahre ist das nicht. Der Unions-Unmut über die Rente ab 63 könnte nur ein Vorbote sein. In der SPD knirscht es wegen der Festlegung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die Bundeswehr mit bewaffnungsfähigen Drohnen auszurüsten.

Gabriel orientiert sich an Methode Merkel

Bei der SPD ist Sigmar Gabriel unangefochten der wichtigste Mann. Mittwochs um acht Uhr trifft er die anderen fünf SPD-Minister vor der Kabinettssitzung, die um 09.30 Uhr stattfindet. Staatssekretäre hat er mit ausgesucht, zudem gibt es eine detaillierte Planung, welche Gesetzesvorhaben bis wann umzusetzen sind. Seinen Büroleiter im Willy-Brandt-Haus, Rainer Sontowski, hat er mit in das Bundeswirtschaftsministerium an der Scharnhorststraße genommen — der langjährige Vertraute leitet jetzt eine Art "Vizekanzleramt".

Für zunehmenden Unmut sorgt bei der Union, dass die SPD mit Verve ihre Prestigeprojekte wie den Mindestlohn von 8,50 Euro verfolgt. Als er nun besiegelt war, sah sich jeder führende Sozialdemokrat zum Preisen bemüßigt, allesamt sprachen sie von einen "historischen Tag". Denn Gabriel hat als einen Grund für das Wahldebakel nach der letzten großen Koalition ausgemacht, dass nicht klar war, was überhaupt die SPD-Handschrift war, welche Reformen ihr Verdienst waren.

Aber tut Gabriel die Machtfülle gut? Einsame Entscheidungen, wie eine Absage an Steuererhöhungen für Spitzenverdiener haben für Unmut gesorgt — viele in der SPD würden mit dem Geld gerne einen Abbau der kalten Progression finanzieren und mehr in Bildung und Straßen investieren. Er habe inzwischen wie Gerhard Schröder eine Attitüde nach dem Motto: "Ich erkläre Euch jetzt mal die Welt", sagt ein Sozialdemokrat. Zugleich äußere er sich nicht mehr zu jedem Thema und kommt nicht mehr mit ständig neuen Vorstößen um die Ecke. "Das hat alle kirre gemacht und am Ende keinerlei Effekt gehabt."

Gabriel orientiert sich ein wenig an der unaufgeregten Methode Merkel, was sicher auch der Arbeit in der Koalition hilft. Aber noch zahlt er auch Lehrgeld. Auf das richtige "Wording" komme es an, sagt einer in Merkels Umfeld. Bei heiklen Themen wie der möglichen Aufweichung des EU-Stabilitätspakts auf "careful wording". Da dürften die Regierenden nur auf den Millimeter abgezirkelte Sätze von sich geben. "Sonst kommt dabei so etwas raus wie von Gabriel in Toulouse." Dort hatte Gabriel gesagt, dass Länder bei tiefgreifenden Reformen mehr Zeit für den Abbau der Staatsschulden bräuchten. Das sorgte für Wirbel in Europa. Merkel stellte dann klar, dass es mit Deutschland keine Lockerung der Sparauflagen des Stabilitätspakts geben werde.

Die große Unbekannte: die Länder

Seitdem sich Gabriel mehr zurückhalte, steige auch sein Ansehen in Umfragen, bemerkt sein Umfeld zufrieden. Im SPD-Präsidium erachte er derzeit eigentlich nur einen als ebenbürtig, heißt es: Olaf Scholz. Hamburgs Erster Bürgermeister ist ein entscheidender Strippenzieher — selten saßen die Bundesländer derart mit am Regierungstisch wie dieses Mal. Mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) heckte Scholz den Kompromiss aus, wonach der Bund von 2015 an alle Kosten für das Bafög von Studenten übernimmt. Hier waren die großen Drei nur noch Notare. "Er ist der beste Verhandler der SPD und extrem gut in allen Themen drin", sagt einer, der Scholz gut kennt. Deutschland Stück für Stück verändern, realitätsnahe Politik statt hochtrabender Visionen.

Ideen wie die einer Mietpreisbremse habe Scholz früher als alle anderen verfolgt. "Es gibt auch deshalb bisher wenig Streit in der Koalition, weil in den Koalitionsverhandlungen fast alles bis zum Ende durchdiskutiert worden ist." Daran war Scholz in vorderster Reihe beteiligt, auch Merkel ist angeblich voll des Lobes über ihn. Die Verhandlungen zwischen Union und FDP gingen zwar wesentlich schneller über die Bühne, aber die vielen Unklarheiten im Vertrag boten den idealen Nährboden für einen Krach nach dem anderen.

Die große Unbekannte für die große Koalition sind die Länder. Im Bundesrat haben Union und SPD keine gemeinsame Mehrheit durch schwarz-rote Landesregierungen. Die Union stellt noch sechs Ministerpräsidenten, die SPD hat neun, die Grünen haben einen.

Zum großen Problem wird die Schuldenbremse, das wird erst jetzt nach und nach klar: Die Länder können nicht wie der Bund beliebig Steuern erhöhen, schon ein zu hoher Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst kann ihre Finanzpläne über den Haufen werfen. Daher könnten gerade SPD-regierte Länder angesichts der Friktionen durch die Schuldenbremse noch viel Druck auf die Regierung ausüben und sich eine Zustimmung zu Gesetzen mit Gegenleistungen des Bundes erkaufen.

Die Bewährungsprobe dürfte noch kommen

"Die Schuldenbremse wird die Geschäftsgrundlage zwischen Bund und Ländern gänzlich verändern", sagt ein Bund-Länder-Koordinator. Als wichtigste SPD-Runde in der Koalition gilt daher die "Kraft-Runde", benannt nach der NRW-Ministerpräsidentin. Immer donnerstags vor Bundesratssitzungen um 20 Uhr tagt man in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen. Hier sprechen Bundespolitiker und Landesfürsten die Linie der SPD ab — und streiten offen. Früher, als noch Kurt Beck die Runde leitete, floss aber deutlich mehr Alkohol, wird erzählt.

Diese neue Nüchternheit ist ein ganz gutes Sinnbild dieser Koalition. Professionelles Regieren, das die Bürger bisher goutieren. Aber ob es dem Land hilft, wenn jeder Seite Wünsche erfüllt werden und sich so ein Rentenpaket auf 160 Milliarden Euro bis 2030 addiert, steht auf einem ganz anderen Blatt. Jetzt sei gerade "Schönwetter-Zeit" in Deutschland, sagt ein SPD-Mann. Aber schon die letzte große Koalition hat mit der Finanzkrise gezeigt, dass das nicht so bleiben muss — die Bewährungsproben für die drei Taktgeber dürften erst noch kommen.

Eine der spannendsten Fragen ist, wie lange Merkel noch an der Macht bleibt. Hier gibt es zwei Meinungen in der Union. Die einen sagen, sie tritt auch noch 2017 an, um mit den vier Kanzlerschaften Helmut Kohls gleichzuziehen, und weil die bald 60-Jährige viel zu fit sei, um ans Aufhören zu denken. Die anderen sagen, Merkel werde die erste in der deutschen Nachkriegsgeschichte sein, die ihren Abgang aus diesem Amt selbst bestimmt. Noch während dieser Legislaturperiode. Etwa, um Generalsekretärin der Vereinten Nationen zu werden.

(dpa/das)
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